1987
Ich weiß nicht genau, ob jemand aufgefallen ist, welch’ grandioses und Standard-setzendes Musikjahr 1987 war. House und HipHop (New School) wurden via DJ International bzw. Def Jam greifbar (Lothar Gorris in seiner »Fresh«-Kolumne in 6/87: »Public Enemy ist das neue Ding!«), mit der Auflösung der Smiths starb die englische Popmusik, Hüsker Dü nahmen ihren Abschied mit »Warehouse Songs And Stories« und bereiteten gleichzeitig den Weg für den Underground-Rock-Komplex von Blast First / SST bis Henri Rollins. Was ’77 eruptiv PASSIERTE, war zehn Jahre spatter ein sich nur in der Rückschau in seiner ganzen Dimension erschließender Kick Off. Der Startschuß in alle Spielarten. Keine greifbare Revolution, sondern der Blueprint zur heutigen Unübersichtlichkeit. Alle bis heute und morgen gültigen Sound / Lyric-Standards wurden in diesem Jah geprägt. Die Beastie Boys, Slayer (!), Neil Young, REM, The Smiths, Guns ‘n’ Roses (verkaufstechnisch übrigens ein Schuß in den Ofen!) und LL Cool J waren auf dem SPEX-Cover. Eine große Zeit auch für diese Zeitschrift.
Depeche Mode fanden 1987 in SPEX nicht statt. Tja, und wie das nun mal so ist, muß ich sagen: Genau in diesem Jahr erscheint mit »Music For The Masses« die beste LP der Band. Waren Depeche Mode bislang auf Albumlänge auf Superhits mit Dreingaben beschränkt, gelingt es auf dieser Platte zum ersten Male, die flächigen Soundwaves soweit aufzufächern, daß sich melancholische Schwere und Beat-Geplucker in Kathedralen-hafte Konstruktion steigern. Housemusic, nur viel, viel lahmer. Ich denke da an den Schluß von »Never Let Me Down« oder die sanften Variationen um 65 bpm herum in »The Things You Said«. Wenn Kraftwerk von der Kunst zur Menschmaschine gegangen sind, dann kamen Depeche Mode vom (Kinder)-Kitsche und wurden zue prototypischen Euro-Electro-BAND, die weder Gruselgruft noch »Vamos A La Playa« verkündete. Depeche Mode haben sich der Wertschätzung aus den USA, die sie für ihren eigenen, europäischen Wef in der elektronischen Popmusik bekamen, nie sonderlich bedient. Andrew Fletcher wußte 1989 nicht, wer Todd Terry ist und lehnte es auch strict ab, sich von derzeit angesagten Hipstern remixen oder gar produzieren zu lassen. Er war sich vielmehr mit Derrick May einig, daß eine britische Ranschmeiße à la ABC oder spate Human League an einen angesagten US-Sound nicht das Ding sein kann. »Human League gingen mit Jam / Lewis zusammen«, sagte er mir damals. »Ergebnis: Sie klingen wie eine amerikanische Soulband; was sie nicht sind. Was ich an uns schätze, ist die europäische Kompnente. Es gab in den letzten zehn Jahren viele britische Bands, die amerikanisch klingen wollten. Waren sie gut?«
Retrotechno
Im Frühjahr 1992 erschien auf No. 6 (via Glitterhouse / EfA) der Sampler »Guitarrorrists«. Der Sage nach hat sich Labelmacher Terry Tolkin zu diesem Gegenschlag der Underground-Rock-Gemeinde entschlossen, nachdem die »Synthie-Band« Depeche Mode angeblich behauptet haben soll, die Gitarre werde ihren baldigen, gerechten Tod sterben. Abgesehen davon, daß solche Kulturverdränger-Rigorismen schon zig Mal ad absurdum geführt worden sind, zeigten die zitierten Klampfen-Stürmer bereits in dem Pennebaker-»101«-Film wie toll sie Ovation-Gitarre spielen können und daß viele ihrer Stücke durchaus »traditionell« zu arrangieren sind. Songs eben. Ich habe lieder vergessen, die auf »Guitarrorists« zitierte Äußerung beim Interview verifizieren zu lassen, nur könnten die Depeche Mode des Jahres 1993 selbst bei der Rettungsaktion des Kulturgutes Klampfe mitwirken: »Wir wollten mehr Performance«, erklärt Andrew Fletcher, »und haben daher mehr traditionelle Instrumente verwendet. Die Ausgangsbasis hieß »Violator«, und von dort mußte es weitergehen. Zu Anfang hat uns der immense Erfolg dieser Platte schwer zu schaffen gemacht, wir wollten uns schlieich ändern.«
»Und wie ich bereits sagte, stehen wir nicht so auf die neuesten Elektro/Tekkno-Ströme. Darüber hinaus haben wir in den letzten zehn Jahren jede erdenkliche Technologie benutzt. Einige »Violator«-Tracks wie »Personal Jesus« oder »Policy Of Truth« verweisen schon in diese Richtung. Mehr bluesig, weißt Du. Blues meets Electronic, wir mögen diese Richtung.« Da wird die Gitarre zum Instrument, könnte man in Abwandlung des beliebten Biolek-Spruches über den »Plattenspieler« sagen. Depeche Mode hämmern dem linearen Technologie-Fortschritt – ohne sich gros darüber erbauliche Gedanken zu machen – eins vor die Festplatte. Angesichts derartiger Retro-Begeisterung stellt sich natürlich die Frage, ob Dave Gahans Ab / Umzug an die US-Westküste nicht nur sein Tattoo-Verhalten, sondern auch seinen Sound-Horizont umgepolt hat, Angeblich hängt er dort mit Jane’s Addiction rum, und wie unschwer zu erkennen, hat er das dortige Designer-Biker-Wesen voll veräußerlicht: »Sicher hat Dave Gahan sein Image ganz schön geändert, doch das hat nichts mit Band-Strategie zu tun. Das ist sein ureigenes Ding.«
Zum ersten Mal seit Depeche-Gedenken werden auf dem Cover von »Songs Of Faith And Devotion« Bandköpfe zu sehen sein. Nach einer Wildente in Zellophan, einem landwirtschaftlichen Stilleben, einem Hämmermann am Matterhorn, nach rotten Lautsprechern vor Flußlandschaft nun der Mensch, das schöpferische Individuum im Mittelpunkt. Wird da eine Jazzband vorbereitet, das Fletcher-Gahan-Gore-Wilder-Quartett?
»Keine Ahnung, wir planen so nicht. Vielleicht sind wir nächstes Jahr ja wieder ganz normal zusammen im Studio. Wir hängen lediglich die Fassade, die wir zehn Jahre lang aufgebaut haben, ein wenig ’runter. Weniger kühl, ein bißchen wärmer, das Ganze. Wußtest du eigentlich, daß wir wegen der atmosphärischen Wärme unserer Sounds fast ausschließlich analoge Techniken verwenden, wenn wir im Studio sind. Wir nehmen nicht digital auf!«
Nach einem guten Jahr des Pausierens, das mit Kinderzeugen, Restaurant-Eröffnen (Fletcher) und Nichtstun ’rumgebracht wurde, trafen sich Depeche Mode in Hamburg, London und Madrid zum zehnten Studio-Stelldichein: »Wir versuchten uns an Quasi-Live-Einspielungen, allein um mehr Performance hinzulegen. Selbst wenn wir diese am Ende gar nicht mehr so einsetzen können, war es eine andere Herangehensweise. Alan will auf Tour bei einigen Songs Schlagzeug spielen, was neu für uns ist. Er übt gerade bzw. legt verschollene Talente frei. Martin spielt verstärkt Gitarre. Auch haben wir zum ersten Mal verschiedene Musiker benutzt. Ein Orchester und schwarze Gospelsänger für zwei Tracks.«
Nach dreizehn Jahren ein Cover für eine Band, die Millionen Fans und auf diesem Wege ein gutes Dutzend wichtiger Leute inspiriert hat. Eine Band als Erbe der Achtziger. Ein Plädoyer für eine Geschichtlichkeit, die sich nach vorne orientiert, das Vergangene jedoch nicht absprengt, sondern laufend befragt und möglicherweise neu bewertet.
Letzte Worte? »Soweit wie bei Guns ‘n’ Roses, wo auf Tour jeder getrennt zum nächsten Gig reist, wird es nicht kommen. Irgendwie haben es wir es geschafft, down to earth zu bleiben, auch wenn wir uns sehr verschieden entwickelt haben. Das liegt zum einen an »Mute«, hat aber auch mit uns selbst zu tun. Wir konnten über all die Jahre relativ privat bleiben. In den Pub oder ins Kino gehen, ohne jeglichen Rummel; besonders wenn die jeweiligen Veröffentlichungswellen vorbei waren. In Hamburg haben uns zwar einige Fans erkannt, das war aber eher nett als nervig. Nun denn: Alan hat Interesse am Producer-Dasein, wohingegen Martin nicht sonderlich an reiner Studioarbeit interessiert ist. Und ich glaube nicht, daß es in den nächsten zehn Jahren noch allzuviele Alben oder Touren von Depeche Mode geben wird.«
Fortschritt Durch Technik - Depeche Mode Im Wandel Der Hardware
»Keine andere Band aus dem New-Wave-Bereich hat es verstanden, derart zuckersüße Melodien zu komponieren. Songs wie »People Are People«, »Master And Servant« oder »Leave In Silence« stehen heute als Meilensteine der Popmusik da. Wäre ich ein Mädchen, hätte ich bei ihren Konzerten sicher standing an den Bühneneingängen ‘rumgelungert… Wie gesagt, für mich die »Beatles der achtziger Jahre«.
Heinz Felber
DJ und Produzent, Frankfurt
»Als Godfathers Of House würde ich Depeche Mode nicht gerade bezeichnen. Obwohl einige Old-School-Detroit-Techniker unverkennbar gleiche Songstrukturen (sich wiederholende Einfachst-Melodien etc.) benutzten, hatten sie auf den Rest der House-Szene wenig Einfluß. Klar habe ich auch die alten LPs ‘rumstehen, aber eher zum Sohören für zu Hause. Depeche Mode kommen aus der New-Wave-EBM-Ecke, die mit »meiner« Vorstellung von House wenig zu tun hat.«
Boris Dlugosch
DJ und Produzent, Hamburg