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Depeche Mode Depeche Mode - Ein Chronik (Starfacts, 2003)

demoderus

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Die Tour-Karawane setzte ihren Weg gen Norden für zwei Konzerte in das Brüsseler Forest National und anschließend nach Skandinavien fort. Für die kompletten Monate Juni und Juli standen dann Dates auf dem europäischen Festland an, darunter elf in Deutschland, einschließlich Zusatzkonzerte in Dortmund un Leipzig. Die verpflichteten Vorbands hatten es bei dieser Tour alles andere als leicht, mußten auch sehr häufig durch andere ersetzt werden, wenn sie das beleidigende, oft handgreifliche Publikum nicht mehr ertragen konnten und das Handtuch warfen. Man muß dazu anmerken, daß ihre Wahl weniger glücklich ausfiel, weil im Gegensatz zu vielleicht Front 242, Nitzer Ebb oder Stabbing Westward aus der Vergangenheit jede Parallele zur Hauptband fehlte. Die Mute-Labelkollegen Miranda Sex Garden waren eine davon. Ihre Violinistin Hepzibah Sessa, seit dieser Zeit mit Alan Wilder liiert, erinnert sich an die Auftritte in der Höhle des Löwen: “Die Mode-Fans sind ein ziemlich lautstartker Haufen, der gar nicht auf Vorgruppen steht. Ich wurde mit allem möglichen Zeug wie faulem Fleisch oder Rüben beworfen. Aber wir hatten trotzdem Spaß.” Als weitere Support-Acts konnten Spiritualized, Think About Mutation oder Marxman versuchen, die undurchdringliche Wand aus Pfiffen zu durchbrechen und mit faulem Fleisch oder Rüben waren Miranda Sex Garden noch vergleichsweise gut bedient.

Während des Konzertes in der Frankfurter Festhalle am 21. Juli geschieht gegen Ende von “In Your Room” Unfaßbares, was kein Fan aus den vorderen Reihen jemals vergessen wird: Dave Gahan bewegte sich grinsend an den Rand der Bühne und sprang kopfüber in die dampfende Meschenmenge. “Ich dachte, ich mache es wie damals, als ich mit sechzehn im Oswald Park von Basildon vom höchsten Sprungbrett in den Pool sprang”, erklärte er anschließend seine, wenn man den mißglückten Versuch in Indianapolis ein Jahr später ausklammert, einmalige Anwandlung. “Ich und mein Freund Jay sprangen immer vom Sprungturm. Wir brauchten uns nur genügend Mut zuzureden und dann sprangen wir vom obersten Brett. Ich dachte nur, jemand wird dich schon auffangen – sie könnten dich in der Luft zerreißen, aber sie werden dich schon wieder aufrichten. Es ist ein seltsames, beängstigendes Gefühl: Millionen H:ande an deinem Körper… sie zerren an dir, zu siehst ihre Gesichte: Die reißen dich in Stücke, sie wollen eben etwas. Jeder will etwas, nehme ich an. Dann plötzlich ist die Security da und rift: “Wir haben dich, Dave!”… Das gab mir den größten Kick, den ich je in meinem verdammten Leben hatte.” Um einen Teil seiner Kleidung erleichtert und um eine Rockstar-Erfahrung reicher wird er mit nacktem zerkratztem Oberkörper zurück auf die Bühne geschoben. Man sieht das Glück des Moments in den geweiteten Pupillen eines Mannes, der im nüchternen Zustand stets die Distanz zum Publikum gewahrt hatte. Hätte er es nur bei dieser Erfahrung belassen und wäre er nicht den kompletten Weg des Klischee-Rockers gegangen, diese Tour hätte für alle Beteiligten einen weitaus positiveren Ausgang haben können.

Doch das Bandgefüge lag bereits zu diesem Zeitpunkt wieder in Trümmern, eigentlich hatte sich an dieser Tatsache seit den Albumaufnahmen nie wirklich etwas geändert. Um den Bandkollegen und deren nächtlichen Exzessen möglichst weiträumig aus dem Weg zu gehen, mietete man nicht nur Hotelzimmer auf unterschiedlichen Etagen, sondern auch noch jeweils in den voneinander entferntesten Ecken des Gebäudes. Aus dem Berliner Intercontinental-Hotel wurde die Band gar rausgeworfen, nachdem pöbelnde Partygäste den Besuch der Polizei in Schutzsausrüstung provozierten. Bis auf Gore und Fletcher, die sich eine Limousine teilten, brachten drei unterschiedliche Chauffeure die Musiker vom Hotel zum Veranstaltungsort und wieder zurück. Während der freien Zeit traf man sich nicht mehr und kommunizierte lediglich auf der Bühne, das jedoch an jedem Abend perfekt. Kein einziges Mal mußten Termine verlegt oder abgesagt wereden, weil es einer der Musiker zu bunt am Vorabend trieb und deshalb nicht imstande war, diese wahrzunehmen. Egal wie, Gahan, um den es hier hauptsächlich geht, war stets zur Stelle wenn es sein mußte, und er lieferte abends genau die routinierte Performance, die man von ihm erwartete. Bei den Backstage-Parties ließen er und Alan Wilder sich hingegen nur selten blicken – ob Pflicht oder nicht ist schließlich Ansichtssache. Nach dem Konzert im Crystal Palace Fußballstadion von London mit The Sisters Of Mercy als Vorband ist mal alles anders und auch der ehemalige Pressesprecher Chris Carr wird zur Aftershow-Party eingeladen. Er erinnert sich: “Es gab um die Band herum viele abgesperrte Bereichte. Eine Riesenparty drauße, für die weder Kosten noch Mühen gespart wurden und mit entsprechend durchgeknallten Gästen. […] Sonderbar war, daß Fletch auf mich zukam und sagte, das ‘Arschloch’ wolle mich sehen. Ich fragte, von wem er sprach, und er antwortete: ‘Dave, er will mit dir reden. Er hat seinen eigenen Aufenthaltsraum im Garderobenbereich, er will dich sehen’.” Carr begab sich also in die nächsthöhere Sicherheitszone und fand den Sänger in seinem wie üblich rot tapezierten Raum, außer mit einer Stereoanlage ausgestattet nur noch dekoriert von Hunderten brennender Kerzen und Räucherstäbchen. Neben reichlich Partyvolk sollen Gahans Familie und sein Sohn Jack mit im Raum gewesen sein. “Dave kam auf mich zugerannt und umarmte mich stürmisch, seine Arme waren voller Schrammen, von denen er behauptete, sie wären von den Zuschauern”, fährt Carr fort. “Solange er aufrecht stehen konnte, war er hier der Mittelpunkt… Wie auch immer, er wollte mit mir angeblich über Nick Cave sprechen, der einen Entzug gemacht hatte und sich auf Kur begeben hat.” Jetzt realisierte der alte Bekannte, wie ernst der Zustand des Sängers inzwischen war. Einen tieferen Sinn verfolgte Dave Gahan mit diesem Gespräch allem Anschein nach nicht, denn er war zu diesem Zeitpunkt weiter von einer Therapie entfernt als jemals zuvor.
 

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Nach dem Konzert in der Crystal Palace Bowl stand der Treck für einen Monat still. Es war wieder Alan Wilder, der diesen August 1993 mit Arbeit für Depeche Mode verbrachte. Während die restliche Band sich erholte, mischte er an verschiedenen Orten aufgenommenes Material für das Album “Songs Of Faith And Devotion Live” und den Ton für das zur Veröffentlichung als Kaufvideo geplante monumentale Tourdokument “Devotional”, wozu Anton Corbijn fantastische Bilder lieferte. Beide Werke, CD und Video, wurden dann einige Monate später in der Vorweihnachtszeit veröffentlicht. Das Album floppte, schaffte noch nicht einmal den Eintritte in die Top 40. Warum, bleibt letztendlich fraglich. In der Tat wird es das hier umgesetzte Konzept vorher noch nicht gegeben haben: Ein gutes halbes Jahr nach dem Studioalbum stellte man dessen titelsynchrone Livefassung in die Plattenläden. Natürlich entsprach dies nicht der tatsächlichen Songabfolge während der Shows und die Atmosphäre der kompletten Konzerte verlor in dieser Forms an Intensität, aber die Liveversionen gestalten sich an vielen Stellen anders; organischer, dichter und aufgrund der zusätzlichen Elemente häufig auch interessanter als ihre Originale. Die Veröffentlichung eines fast vollständigen Konzertes wie etwa auf “101”, wäre vielleicht sinnvoller gewesen. Mit etwas Geschick konnte sich der Fan aber aus “SOFAD Live” und den B-Seiten der beiden kommenden Maxi-Veröffentlichungen ebenfalls ein fast komplettes Livealbum zusammenstellen und das “Devotional”-Video gab es schließlich auch noch. “Condemnation” wurde die dritte Single aus dem Album und ist gleichzeitig die erste der oben erwähnten Auskopplungen, die auch mit Livetracks ausgestattet wurde. Die Single erschien am 13. September, einmal als leicht abgeänderter “Paris Mix” mit dem überarbeitet wiederveröffentlichen Soundtrackbeitrag “Death’s Door” und sehr guten, technolastigen Versionen von “Rush” auf der B-Seite, sowie weiterhin als “Condemnation Live”-EP mit dem Titelsong “Personal Jesus”, “Enjoy The Silence” und “Halo” – jeweils aufgezeichnet beim Mailänder Konzert drei Monate zuvor. Für Fans ein Pflichtkauf, der in England mit dem neunten Rang notiert wird. Im Clip, den Anton Corbijn selbst als seinen schlechtesten bezeichnete, wird Dave Gahan wie ein Messias zum Alter unter offenem Himmel geführt, wo bereits ein dunkelblondes Bild einer Frau darauf wartet, mit Ketten an ihn gebunden zu werden. Gore, Fletcher und Wilder stehen in Mönchsroben gekleidet und mit einer Art Bibel im Arm abseits von Geschehen.

Wenige Tage vor der Singleveröffentlichung wurde die riesige Bühne für das erste Konzert dieser Tour in Amerika aufgebaut. Zunächst absolvierten Depeche Mode Gigs in Kanada, danach in den Vereinigten Staaten und zuletzt in Südamerika. Ingesamt 49 mal tritt die Band im Spätsommer und Herbst auf dem amerikanischen Kontinent auf, darunter allein an drei Abenden im Madison Square Garden von New York und fünf im Forum von Los Angeles, jeweils vor ausverkaufter Kulisse. Nach dem regulären Set in der Lakefront Arena von New Orleans am 8. Oktober brach Dave Gahan bewußtlos zusammen und mußte in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Martin Gore übernahm seinen Gesangspart für die zwangsweise verkürzte Zugabe. Was tatsächlich passierte, bleibt ungeklärt, Gahan selbst sprach von einem Herzinfarkt nach Überdosis, Alan Wilder hielt as für einen “kleinen Schwächeanfall und Herzflattern”. Gore wurden die andauernden übertriebenen Parties sechs Wochen später zum Verhängnis, als er während einer Besprechung plötzlich eine Art epileptischen Anfall erlitt, kopfüber stürzte und von Krämpfen geschüttelt erst mehr als seine Stunde späte das Bewußtsein zurückerlangen konnte. Streß und Alkoholmißbrauch zeigten damals, nicht zum ersten Mal wie sich später herausstellt, ihr Spuren bei Gore, der schon zuvor angab, manchmal minutenlange Blackouts erlebt zu haben. Nach dem letzten Vorfall schränkte er sich etwas ein.

Den Höhepunkt des ersten Teils der Amerika-Tour feierte man in Mexico-City und bevor um die Weihnachts – und Neujahrszeit drei Wochen Pause eingelegte wurden, kehrten Depeche Mode zu den letzten fünf Konzerten in Europa für die nächsten fünf Jahre auf die Britischen Inseln zurück. Am 20. Dezember schließlich lockte das europäische Tour-Finale 12.000 Fans in die Londoner Wembley-Arena, darunter eine große Zahl an deutschen Fans, die hauptsächlich, als hätten sie das halbe Jahrzehnt ohne ihre Band geahnt, in unbequemen Reisebussen via Indietours anreiste. Indietours war ein beliebtes, auf die deutsche Indieszene spezialisiertes Reseunternehmen, das leider wenige Jahre später unglücklich Konkurs anmelden mußte. Belohnt wurden die vielen, aus allen Teilen Europas “eingefallenen” Besucher mit einer teilweise abgeänderten Setlist und einer Band in Bestform. Das weitaus passivere, einheimische Publikum durfte obendrein erleben, wie man anderenorts sonst üblicherweise mit Depeche Mode feierte.

Das Jahr 1993 schloß mit diesem Höhepunkt und die Bandgeschichte hätte eine vollständig andere Bahn eingeschlagen, wäre auch die Tournee an dieser Stelle abgeschlossen worden. Doch die Vernunft siegt nicht immer und was der weitere Verlauf nach sich zieht, wir sehr bald deutlich.
 

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Kapitel 9
Moved By Invidious Love


Am 10. Januar 1994 erschien die vierte und letzte Single aus dem Album “Songs Of Faith And Devotion”, “In Your Room”. Die Vinyl- und CD-Versionen gab es in dreifacher Ausführung mit unterschiedlichen Inhalten. Das CD-Digipack zeigt ausgefaltet ein großes Kreuz und bietet neben der ab Werk enthaltenen CD Platz f:ur die zwei später veröffentlichten limitierten Ausgaben mit weiteren Mixen und Liveversionen auch älterer Songs. Der reguläre Tonträger enthält das Titelstück im rockigen Zephyr Mix sowie “Never Let Me Down Again” und “Death’s Door”, aufgenommen während der “Devotional”-Tour. Als bessere Variante kann man den neuen Mix von “In Your Room” vielleicht nicht bezeichnen, weil viel von der packenden Stimmung des Titels verlorengegangen ist, der Zephyr Mix hat jedoch mehr Drive, ist radiotauglicher und somit auch geeigneter für das Musikfernsehen. Das entsprechende Video wirkt wieder substantieller als das vorangegangene zu “Condemnation” und setzt Martin Gores im Text verschleierte S/M-Thematik subtil in Bilder um. Eine Glühbirne, wohl als Symbol für im Text erwähntes “Halflight” und bereits in der Live-Projektion der aktuellen Tournee sowie auf dem Singlecover zu sehen, befindet sich permanent im Bildvordergrund, während dahinter unter anderem die Musiker kurzzeitig festgeschnallt auf einem Stuhl gezeigt werden. MTV Amerika befindet Corbijns Interpretation des Textes zu anrüchig und verweigert die Ausstrahlung. Wahrscheinlich wäre “In Your Room” mit seinem neu gewonnenen Rockflair anderenfalls einer von Depeche Modes größten Hits in den USA geworden. Im Clip weiterhin auffällig ist Corbijns Einbindung von Symbolik und nachgestellten Szenen aus einigen seiner vorangegangenen Videos für die Band. Nach Aussagen des Regisseurs sollte dadurch eine Art Rückblick auf ihre gemeinsame Arbeit gegeben werden, denn er war sich nicht sicher, ob er aufgrund Dave Gahans schwerer Drogensucht und der daraus resultierenden ungewissen Bandzukunft jemals wieder einen Auftrag von Depeche Mode bekommen würde.

Alan Wilder und Steve Lyon trafen sich kurz nach der Singleveröffentlichung in Mailand, um an neuen Backingtapes für die Tourneefortsetzung zu arbeiten. Für die anstehenden Konzerte in Afrika, Asien, Australien, Südamerika und dazugekommene in Nordamerika wurde die Setlist geändert, und das bedeutete wieder einen längeren Studioaufenthalt für den Perfektionisten Wilder. Der bisherige Opener “Higher Love” wich dem dynamischeren “Rush”, dem ein gänzlich neues Intro vorangestellt, das vom ersten Ton an die Konzerthallen auf Partylevel befördern sollte. Fester Bestandteil des Programms wurden zudem noch “Somebody”, ein um Gitarrenparts erweitertes “A Question Of Time” und “I Want You Now” in einer überraschend anderen TripHop-Variante. Wilder wird gerade rechtzeitig fertig, fliegt jedoch direkt von Mailand nach Südafrika, um noch pünktlich im gigantischen Standard Bank von Johannesburg anzukommen, wo am 9. Februar 1994 das erste Konzert der von “Devotional” in “Exotic” umgetauften Tour über die Bühne gehen sollte. Sechs weitere Gigs im Standard Bank folgten in den nächsten Tagen. Noch während ihres Aufenthalts in Südafrika mußte sich der Keyboarder wegen unerträglicher Schmerzen im Unterlieb in ärtzliche Behandlung begeben. Die Diagnose lautete auf Nierensteine – “Eindeutig eine Nebenwirkung, ausgelöst vom hohen Alkoholkonsum”, mutmaßte Daryl Bamonte. Nur zwei Tage später ist Alan Wilder wieder fit und Konzerte in Singapur, Melbourne, Sydney, Manila, Bangkok, Sao Paulo, Buenos Aires, Santiago de Chile sowie 15 weitere bis Mitte April schlossen sich direkt an. Ab dem 12. Mai rollten die Sattelschlepper erneut, allerdings mit etwas reduzierten Bühnenbauten, durch Nordamerika.

Diese außerplanmäßige Sommertour durch Nordamerika wurde bereits zu Jahresbeginn beschlossen. Zwei Gründe für ihre Durchführung wurden genannt: Zum einen konnte man sich das baldige Ende dieser Dauerparty nur schwer vorstellen und außerdem hatte die Tour, aufgrund des maßlosen Luxus’, den sich die Band gönnte, bislang fast mehr Geld gekostet als sie an Gewinn abwarf. Lediglich Andy Fletcher war von vornherein gegen die dann inoffiziell “Exposure” genannte Tour. Er ahnte bereits, daß sie ein gesundheitliches Risiko darstellen würde und dazu die Band vielleicht vollständig zerrütten könnte, doch seine und die Bedenken Daniel Millers blieben unbeachtet. Noch bevor man überhaupt nach Amerika aufbrach und es zum Debakel kommen konnte, machte Fletch einen Rückzieher. Schon während der Asien-Konzerte hatte er den Spaß am Tourleben gänzlich verloren. Von wachsendem Heimweh und Einsamkeit begleitet, quälte er sich allabendlich auf die Bühne. Der Gedanke an Zusatzkonzerte bis in den Juli hinein, während seine Frau in England das zweite Kind zur Welt bringen würde, machte ihn krank, psychisch krank, wie er später erklärte: “Die Pflichten, die Fristen, die Parties und Exzesse – ich konnte nicht mehr. Ich litt unter zwanghaftem Fehlverhalten. Den Streß verdrängte ich, indem ich mir Krankheiten einbildete. Das klingt zwar furchtbar, aber ich dachte allen ernstes, ich hätte einen Gehirntumor. Ich konnte weder schlafen noch denken, litt permanent an Kopfschmerzen. Dann ließ ich Tests machen und es stellte sich heraus, daß kein Tumor die Ursache war, ich aber einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.” Auf Anraten seiner Bandkollegen sollte er nach Hause fahren und sich dort behandeln lassen. Fletcher nahm den Vorschlag mit Erleichterung auf und trat umgehend den Rückzug an. Als am 22. Juni sein Sohn Joseph geboren wurde, befand er sich längst auf dem Weg der Genesung.
 

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Der enge Vertraute und Gahan-Freund Daryl Bamonte wurde in diesem Jahr das Mädchen für alles. Nachdem er bereits den Job des Tourmanagers übernommen hatte, ersetzte er nach Fletchers Abreise den zweiten Mann hinter den Tasten. Der Zeitraum für die Auswechslung nach dem zweiten Konzert auf Hawaii war günstig, immerhin hatte Alan Wilder neun Tage Zeit, Bamonte auf seine Arbeit vorzubereiten, bevor dieser am 4. April im Olympia von Sao Paulo erstmalig als Musiker mit Depeche Mode auf der Bühne stand.

Als die Band wenige Tage später in Chile war, ging die Nachricht vom schockierenden Sebstmord mittels Schrotflinte des Nirvana-Sängers Kurt Cobain um die Welt. Der mittlerweile kaum noch zurechnungsfähige Gahan reagierte auf seine nicht mehr nachvollziehbare Art und schrie in einem Wutanfall: “Dieser Bastard! Der hat meine Idee geklaut”. Als er sich wieder beruhigt hatte, sollen er und Gore seit langer Zeit, wenn auch mit sämtlichen Rauschmitteln im Körper, ein halbwegs fruchtbares Gespräch geführt haben, in dem der Songwriter sinngemäß verlauten ließ, die Ideen für seine Songs von Gott zu erhalten und diese sich nur über Gahans Stimme als Medium transportierten lassen würden. “Für mich war das so ziemlich das schönste, was er je zu mir gesagt hat”, meinte der Sänger. “Ich muß allerdings anmerken, daß zwischen uns gerade eine Heile-Welt-Stimmung herrschte. Und trotzdem dachte ich mir insgehelm: Vielleicht bin ich auserwählt, eine Botschaft zu überbringen, wer kann das schon sagen?”

Dave Gahan bemühte sich mit Erfolg, die Rockband Primal Scream für den letzten Teil der Tour als Anheizer zu gewinnen. Er bezeichnete sich als Fan dieser skandalträchtigen Band aus Glasgow und er wußte, daß ihre Mitglieder etwas ähnliches unter dem Begriff “Feiern” verstanden wie er selbst. Gahan verbrachte fortan mehr Zeit mit den abgefahrenen Primal Scream-Musikern als mit seinen Depeche-Kollegen. Nächtelang zechten sie gemeinsam und für den neuen Inbegriff des Rock-Messias muß es wie eine Erleichterung gewesen sein, endliche Leute um sich zu haben, die so daneben waren wie er selbst. Die Qualität seiner Performance litt inzwischen zusehends an seiner destruktiven Lebensführung: Gahans Stimme wurde kehliger und der Gesang undeutlich, er vergaß oft die Texte, verpaßte seine Einsätze und machte anscheinend keinen Hehl mehr aus seiner Sucht, wenn er abgefüllt seinen 48kg-Körper über die Bühne steuerte. Gerüchten zufolge soll sich selbst die hartgesottene chaotische Vorband schockiert über die Dinge geäußert haben, die sie während der Tour erlebt hatte. “Kurz von den Schows klopfte es immer an meiner Tür. Entweder war es Innes, Throb oder Bobby von Scream mit der Frage: ‘Hast du was zum Aufkochen, Mr. G.?’”, entsinnte sich Dave Gahan später. “Klar gab ich ihnen, was sie wollten. Bobby konnte gut damit umgehen, er wußte zumindest, wann er aufhören mußte. Ich dagegen nicht. Mir war vorher nicht klar, daß kein anderer so hart drauf war wie ich. Scream bewiesen es mir.”

Der Pressevertreter Andrew Perry hatte die Möglichkeit, den Großteil dieser Tour zu begleiten. Er berichtete: “Einer der Roadies wurde jeden Abend ins Publikum geschickt, um 15 bis 20 der schönsten Mädchen auszusuchen, mit denen Mode sich dann vergnügen konnten. Scream hatten immer eine Anlage und massig Platten in ihrer Garderobe. Überall waren tanzende Leute und in der Mitte saß Gahan in einem Sessel. Er zog sich so viel Koks in die Nase, daß man es mit der Angst zu tun bekam. Plötzlich fiel ihm ein, daß ich Journalist bin. Er zeigt auf mich und einer seiner Aufpasser holte mich zu ihm heran. Ich mußte mich hinknien, damit er mit mir reden konnt. Zuerst erzählte er irgendwelches Zeug, von wegen niemand verstünde ihn wirklich, aber schlagartig änderte er sein Verhalten und er zischte: “Ich werde dich verfluchen!” Und bevor ich realisierte, was los war, hatte er mich in den Hals gebissen. Er fing an zu brüllen und alle beobachteten ihn. Dann stürmte er noch immer schreiend aus dem Raum.”

Am 8. Juli 1994 hatte der Wahnsinn schließlich ein Ende. Das letzte Konzert der inzwischen 18 Monate andauernden Tour, die mehr als zwei Millionen Menschen sahen, fand im Deer Creek Musik Center von Indianapolis statt und es endete, wie sollte es anders sein, mit dem Krankenhausaufenthalt des Sängers. Ob er von den Bühne fiel oder nochmals ins Publikum springen wollte, ist wohl nebensächlich, fest steht, daß Gahan während der Zugabe auf das Absperrgitter vor der Bühne knallte, sich zwei Rippen brach und innere Blutungen erlitt. “Es dauerte 24 Stunden, bis ich etwas spürte, so betrunken war ich. Am nächsten Tag kamen die furchtbaren Schmerzen. Ich sollte ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, aber das wollte ich keinesfalls. Theresa und ich mieteten eine kleine Hütte am Lake Tahoe in Kalifornien und wir verkrochen uns dort. Drei Wochen mußte ich mit Bandagen leben.”

Direkt nach dem letzten Konzert gingen die Bandmitglieder ihrer eigenen Wege. Gahan blieb in Amerika, Gore und Wilder flogen zurück nach England. Vor allem Gore und Gahan hatten anfangs Schwierigkeiten, in einem normalen Tagesrhythmus zurückzufinden. Doch während Gore sich mit Tabletten schnell Abhilfe schaffen konnte, fiel Gahan in eine tiefes Loch: “Ich war fertig, fix und fertig. Ich hatte keine Konzerte mehr, die vertrauten Leute aus meiner Umgebung waren weg. Alles, was noch geblieben war, waren die Drogen.” Theresa und er verbrachten in den nächsten Wochen jede Minute zusammen, isoliert von der Außenwelt. Kontakt zu Bekannten mieden sie zunächst, Gahan vermutete sogar in jedem Versuch Außenstehender, an ihn heranzukommen, daß diese ihn auszunutzen im Sinn hatten. Innerliche Leere und Langeweile betäubte er mit anhaltendem Drogenkonsum: “Ich dachte, ich hätte mich unter Kontrolle, konnte ab und zu mal was nehmen und meine kleine Party veranstalten. Kleine Parties, die dann schon mal bis zu einen Monat dauern konnten. Danach hing ich zitternd herum und wußte nicht, was los ist.” Das Heroin allein zeigte bei ihm keine Wirkung mehr, ohne den Stoff setzten allerdings die Eintzugserscheinungen ein. Irgendwann äußerte Theresa den Wunsch nach einem Kind und ihr Mann antwortete: “Wir sind Junkies, machwen wir uns doch nichts vor. Wenn man Junkie ist, kann man weder scheißen, pissen noch kommen… gar nichts. Alle Körperfunktionen geben ihren Geist auf. Man lebt in einem seelenlosen Körper, eine Hülle.”

Um sich einen Druck zu setzen, verschanzte er sich immer im sogenannten Blauen Zimmer seiner Villa in Los Angeles, welches nur diesem einen Zweck diente. Die Dealer gingen ein und aus, Gahan stand nie auf dem Schlauch. Nach seinem Eintzug sagte er: “Ich hatte endlos viel verdammte Kohle. Die Dealer kamen zu mir. Erst im letzten Jahr fingen sie an, mich zu meiden. Wenn ich drauf war, bin ich des öfteren in Schwerigkeiten geraten, was öffentlich bekannte wurde. Deshalb wollten sie irgendwann nichts mehr mit mir zu tun haben.”
 

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Als Martin Gore am 27. August 1994 seine Lebensgefährtin Suzanne heiratete, sah und hörte er Dave, der in Begleitung seiner Primal Scream-Kumpels zur Feier erschien, zum letzten Mal für lange Zeit. Kurz darauf, am 1. September, geht die Nachricht durch die Medien: “Musiker von Depeche Mode bei Flugzeugabsturz beinahe ums Leben gekommen.” Es ging um Alan Wilder, der inzwischen geschieden war und nicht etwa selbst in einem verunglückten Flugzeug saß, sondern mit seiner Freundin Hepzibah von Miranda Sex Garden auf einer Landstraße in Richtung Loch Earn unterwegs war, als plötzlich ein Tornado im Tiefflug auf sein Cabrio zudonnerte. Wilder lenkte schnell ins Feld und Sekunden später hagelten kleine Teile des Flugzeugs auf ihre Köpfe. In nur 180 Metern Entfernung ging es in Flammen auf, Körperteile der beiden verunglückten Piloten lagen überall verstreut. Da dies nicht sein erstes traumatisches Erlebnis mit Flugzeugen war, gab Wilder an, für den Rest seines Lebens die Nase vom Fliegen voll zu haben.

Unterdessen glitt dem Sänger die Kontrolle über sich vollständig aus den Händen. Selbst wenn sein Sohn zu Besuch nach L.A. kam, konnte er sich nicht mehr zusammenreißen und er mußt seine Mutter bitten, ihn bei der Betreuung zu unterstützen. An einem Abend, als beide schliefen, setzte er sich im Wohnzimmer einen Schuß und verlor das Bewußtein. Als er am nächsten Tag zu sich kam, fand er sich in seinem Schlafzimmer wieder und seine ersten Gedanken galten dem Stoff und Spritzbesteck, welche er im anderen Zimmer hatte liegenlassen. Seine Mutter hatte es bereits weggeworfen und das Häufchen Elend konnte nicht anders, als vor den Augen seiner Familie mehrere Müllbeutel in der Küche zu entleeren und zu durchsuchen, bis er fand, was er brauchte. Seine Sucht ließe sich nicht mehr verbergen. Als ihn sein Sohn noch am selben Tag zugedröhnt mit offenen Wunden auf dem Boden des Badezimmers sieht, wird Gahan für einen Moment bewußt, daß er sterben würde, wenn er sich nicht in den Griff bekommt. Mit Beginn des Jahres 1995 startet er einen halbherzigen Versuch, clean zu werden. Er begibt sich für sechs Wochen in eine Klinik nach Arizona und schafft den Entzug, bleibt anschließend in ärztlicher Behandlung und besucht Selbsthilfegruppen. Es dauerte jedoch nicht lange und Gahan wurde wieder rückfällig, aber konsumierte anfangs nur heimlich. Er belog andere und täuchte vollständig abgedichtet und lallend wieder auf mit der Bemerkung: “Ich habe es geschafft, dreißig Sekunden lang clean zu sein.”

Mehrmals hatte er versucht, seine Grau zu überreden, mit ihm gemeinsam den Entzug duruchzustehen und ohne Drogen zu leben, weil dies parallel für beide Seiten einfacher gewesen wäre, doch ihr Zustand war stabiler und sie sah ganz einfach keinen Grund dafür. Die Ehe war auch längst zerbrochen. Nach Gahans letzten Rückfall bekundete Theresa Conway erneut, wie leid sie es war, andauernd seinen zitternden Körper vom Boden aufzulesen und die Scheidung folgte nicht unerwartet kurze Zeit später.

Gahans Leben wurde dadurch nicht einfacher. Jetzt war er pausenlos von Junkies umgeben, die bei dem reichen Popstar hausierten und ihm Gegenzug für Drogen ihre Gesellschaft boten. Schmarotzend nutzten sie jede Gelegenheit, ihren Wirt zu beklauen. Oftmals erwachte er, um Geld, Stoff oder Teile der Wohnungseinrichtung erleichtert, aus seinem Rausch. In einer anderen Nacht brach er nach einem Besuch bei seiner Dealerin in deren Vorgarten zusammen. Als er wieder zu sich kam, war er bis auf die Unterwäsche entkleidet, seine Brieftasche, Uhr, Schmuck und Stoff waren verschwunden. Mit den 400 Dollar, die er in einem Strumpf versteckt hatte, ging er zurück zum Haus und investierte sie in Heroin. Die Frau im Türrahmen trug seine Uhr am Arm.

De materiell größten Verlust erfuhr Dave Gahan im August 1995 umgehend nach seiner Rückkehr aus seinem ersten, komplett ausgestandenen Entzug. In seine kalifornische Villa wurde nicht nur eingebrochen, sie war leer, komplett ausgeräumt. Die Diebe ließen weder Fernseher, noch Equipment aus dem Tonstudio oder die zwei Harley Davidsons aus der Garage zurück, selbst das Besteck wurde gestohlen. Die Alarmanlage mußte zuerst außer Betrieb, nach der Räumung wieder aktiviert worden sein, was Gahan zu der Erkenntnis führte, daß hier jemand aus seinem engsten Kreis an Vertrauten die Fäden zog, weil niemand sonst die Zahlenkombination kannte und dies womöglich einen Racheakt für seine geplante Rückkehr in ein geordnetes Leben darstellen sollte. “Das wirkte alles so unheimlich. Wie in einem dieser abgefuckten L.A.-Streifen, nur mit mir selbst als Hauptdarsteller”, erinnerte er sich später an diesen Tag. “Ich dachte mir nur: ‘Du solltest verdammt noch mal nicht hier sein. Wenn ich anderen wieder ein würdiges Leben führen’.” Gahan suchte daraufhin sein Apartment im Sunset Marquis von Los Angeles auf und rief seine Mutter an, um ihr mitzuteilen, daß er gerade erfolgreich einen Entzug hinter sich gebracht hatte. Die Reaktion der einzigen Person, von der er glaubte, ihn noch zu lieben, war dann der Auslöser für den verzweifelten Hilfeschrei, der sich anschloß. Sie glaubte ihm kein Wort, meinte gar zu wissen, ihr Sohn hätte sich zu keinem Zeitpunkt professionell helfen lassen und ließ ihn dies unmißverständlich spüren. Gahan verpaßte sich einen Druck, ging in sein Badezimmer und schnitt sich die Pulsadern auf. Zwei Jahre danach versicherte der Sänger, daß er wußte, jemand würde kommen und ihn finden. Und so war es auch. Ein Freund traf kurz bevor Gahan das Bewußtsein verlor ein, sah dessen blutverschmierte, mit Stoff unwickelten Arme und wählte 9-1-1. Zeit für eine Betäubung blieb nicht mehr, mittlerweile hatte er auch zu viel Blut verloren und so nähten die eingetroffenen Notärzte die fünf Zentimeter lange Schnittwunde am Handegelenk an Ort und Stelle. Seine Retter sagten bloß: “Du dämlicher Kerl, nicht du schon wieder”. Tatsächlich nannte dieses Ärzteteam aus Hollywood Gahan schon ‘The Cat’, denn sie kannten ihn bereits von mehreren anderen Notfällen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Sänger standen. Er erzählt: “Am nächsten Morgen erwachte ich festgeschnallt in der Gummizelle einer psychiatrischen Anstalt. Zuerst glaubte ich, tot zu sein, doch dann kam dieser Nervenklempner rein und erklärte mir, daß der Selbstmord in Kalifornien strafbar sei. Ich wurde also nur festgehalten, weil ich versuchte men Leben zu beenden. Heute bin ich froh, darüber lachen zu können.” Nach einigen Tagen in einem sterilen Raum, nur mit einem Bett ausgestattet, ließ man ihn wieder auf freien Fuß. Etwa zeitgleich erreichte die Nachricht über Gahans gescheiterten Suizid die Medien. In diesem Sommer ist es die zweite DM-Schreckensmeldung für Fans, die ab dieserm Zeitpunkt wohl endgültig die Hoffnung auf ein neues Album verloren hatten.
 

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Doch von der anderen elementaren Sache, Depeche Mode betreffend, bekam Dave Gahan so gut wie nichts mit. Wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht mehr. Alan Wilder hatte wenige Wochen vor dem Selbstmordversuch des Sängers Depeche Mode den Rücken gekehrt: “Ich bat um ein Meeting im Büro, um ihnen mitzuteilen, daß ich die Band verlassen würde”, erklärt Wilder. “Eigentlich wußte ich bereits während der Tour, daß ich aussteigen wollte, doch ich gab mir noch sechs Monate Bedenkzeit, um eine Fehlentscheidung zu vermeiden, aber auch danach sah ich die Situation nicht anders. Dave konnte ich nicht bitten, zum Meeting einzufliegen, also versuchte ich, ihn anzurufen. Er war nie erreichbar und rief auch nicht zurück. Ich schickte ihm eine Fax, auf dem ich meinen Entschluß verdeutlichte, und wünschte allen viel Glück.” Während Fletcher den Ausstieg nach Wilders Auffassung als persönliche Beleidigung ansah, reagierte Gore gelassen und gab Wilder die Hand. Wahrscheinlich hatte er sogar damit gerechnet, denn der Mißmut des Soundspezialisten war seit längerer Zeit spürbar. Anfang Juni 1995 konnte man in folgender Pressemitteilung lesen:

“Aufgrund zunehmender Unzufriedenheit über bandinterne Belange und Arbeitsweisen gebe ich mit Bedauern mein Ausschieden aus der Gruppe Depeche Mode bekannt. Diese Entschiedung fiel mir schwer, vor allem weil die letzten Alben bewiesen haben, wie viel Potential in Depeche Mode steckt. Seit meinem Eintritt im Jahr 1982 trug ich stets mit großer Begeisterung, Energie und Verantwortung dazu bei, den Erfolg der Band voranzutreiben, bei zumeist ungerechter Verteilung der Arbeit. Meine Bemühungen wurden weder entsprechend gewürdigt noch überhaupt registriert. Obwohl ich der Meinung bin, daß sich die Qualität unserer Musik stets verbesserte, verschlechterte sich unswere zwischenmenschliche Beziehung so drastisch, daß das eine sich nicht mehr durch das andere kompensieren ließ. Es liegt mir fern, bestimmte Personen beim Namen zu nennen. Tatsache ist, daß es zu ernsten, zunehmend frustrierenden und letztendlich untragbaren Spannungen gekommen ist.

“Unter diesen Umständen blieb mir keine andere Wahl, als die Gruppe zu verlassen. Für mich war es sehr bedeutend, diesen Entschluß an einem Zeitpunkt zu treffen, während dem ich noch motiviert bin, meine Begeisterung und Leidenschaft für Musik noch nicht verloren habe und ich mich auf die Arbeit an neuen Projekten freuen kann.

“Den verbleibenden Bandmitgliedern wünsche ich alles Gute für ihr zukunftiges Schaffen, ob gemeinsam oder im Alleingang.”

Auch jetzt, als zum zweiten Mal in der Bandgeschichte ein wichtiges Mitglied das Handtuck wirft, bleiben pessimistische Diskussionen um dem Fortbestand von Depeche Mode aus. Wahrscheinlich hat Alan Wilder mit seiner Behauptung recht, er wäre permanent von den anderen unterschätzt worden, denn es mutet schon etwas eigenartig an, daß der Weggang des einzigen klassischen Musikers kaum als Gefährdung für die Band angesehen wurde. Daniel Miller spann den Faden noch etwas weiter: “Es war so, daß Dave Alans Arbeit schätzte, Fletch sie herunterspielte und Martin in seiner eigenen Welt lebte und gar nicht darüber nachdachte. Esgeht hier auch nicht nur um den musikalischen Aspekt, Alan machte sich die Mühe und überprüfte viele Dinge, hörte sich Cuts an, begutachtete Artworks und so weiter. Alles, was mit der Band zu tun hatte, interessierte ihn. Ich meine, daß auch finanzielle Aspekte eine Rolle spielten. Fletch und Alan verdienten gleicht viel. Alan hatte das Gefühl, viel mehr Arbeit zu verrichten als Fletch und Fletch dagegen fühlte sich von Alan unterbewertet. Ich möchte allerdings ausdrücklich betonen, daß niemand direkt mit der Vermutung an mich herantrat, die Finanzen seien der Grund für den Ausstieg gewesen, ich hörte davon nur aus zweiter Hand. Martin verdient als Songwriter natürlich am meisten, das wurde auch von allen akzeptiert. […] Keiner in der Band wagte jemals, zu behaupten, diesen oder jenen Teil eines Songs geschrieben zu haben. Verlagsangelegenheiten führen bei Band häufig zur Trennung, und was die Rolle Martins anbelangt: Alle hatten großen Respekt vor ihm und wußten um seine große Bedeutung.”

Alan Wilders erstes Album nach der Trennung, weiterhin unter dem bisherigen Projektnamen Recoil, erschein 1997 mit dem Titel “Unsound Methods”, das zweite und bislang letzte namens “Liquid” knapp drei Jahre darauf. Sein Stil unterscheidet sich mittlerweile stark von Depeche Modes. Er experimentierte viel mit Stimmen, Klang und Klangwirkung. Harmonie und Melodie, häufig Voraussetzung für Eingängigkeit und unbeschwerten Konsum, sind bei Recoil nicht die maßgebenden Komponenten. An den Erfolg der letzten Veröffentlichungen von Depeche Mode reichten beide Alben auch nicht annähernd heran. Doch Wilders musikalische Intention ist nicht am Markt ausgerichtet. Die Musik hat für ihn wieder den Charakter eines Hobbys und er erreicht eine kleine Gruppe anspruchsvoller Hörer, die sie auch schätzt oder zu verstehen in der Lage ist. Diskussionen über die Umsetzung der Songs von Depeche Mode seit seinem Weggang gab und gibt es immer wieder. Auch wenn es unmöglich ist, zu wissen, wie die Songs unter der Mitwirkung Alan Wilders geklungen hätten, bleibt anzumerken, daß kein Anhänger der Band ernsthaft glaubt, sie wären durch seine Mitarbeit schlechter geworden. Häufiger konnte man hingegen Stimmen vernehmen, die die Abwesenheit des Musikers bei der Studioarbeit seitdem überaus deutlich herauszuhören meinen und Wilders geschärften Sinn für kleine elektronische Details ebenso wie seinen Hang zum komplexen Sound-Bombast schmerzlich vermissen. Wilders Part im Studio war längst der wichtigste geworden, was das finale Klangbild eines Albums von Depeche Mode anbelangt, und mit gleicher Sicherheit kann gesagt werden, daß “Ultra” und “Exciter”, die zwei Alben ohne ihn, anders arrangiert worden wären als sie es unter dem Haupteinfluß von Fremdproduzenten schließlich wurden, in welche Richtung bleibt offen. Dem Erfolg der Band haben die Alben allerdings nicht geschadet und sollte Alan Wilder jemals angenommen haben, Depeche Mode würden ohne ihn nicht mehr funktionieren, bleibt nichts anderes als die Erkenntnis, daß er sich getäuscht hat.

Im Spätsommer 1995 traf sich die verbliebene dreiköpfige Band nach einem kompletten Jahr ohne große Gedanken an Depeche Mode, um über ihre unittelbare musikalische Zukunft zu beraten. Martin Gore konnte wenigstens eine Handvoll neuer Songs vorweisen und so stellte man sich die Frage, ob jeder einzelne körperlich und geistig bereits in der Lage wäre, ein neues Album aufzunehmen. Man entschied sich vorerst dagegen. Daniel Miller schlug vor, daß das erste Ziel sein sollte, ein Best Of Album, den Nachfolger zu “The Singles 81-85” mit zwei ganz neuen Stücken, aufzunehmen. Der Druck war also sehr gering, und sollte mehr bei diesen Sessions herauskommen, hätte noch immer ein ganzes Konzeptalbum in Angriff genommen werden können. Im kommenden Jahr wollte man in die Arbeit einsteigen.

Für Dave Gahan waren die Pläne nicht etwa Grund genug, ein Leben ohne Drogen anzustreben. Nach kurzen Phasen des Versichts stürzte er sich in immer heftigere Exzesse, irgendwann spritzte er täglich. “Nach jedem Schuß brauchte ich mehr und die Anstände wurden immer kürzer, ich konnte einfach nicht genug kriegen”, blickt er zurück. “Ich mußte weitermachen, bis ich bewußtlos war. Dar was nicht nur men Problem, sondern es ist das eines jeden Süchtigen: Nicht zu wissen, wann man aufhören muß. Ich wußte es nicht, rutschte immer schneller den Abgrund hinunter.” Irgendwann erreichte er einen Zustand, wo er sich praktisch Wasser spritzte, wenn kein Stoff zu bekommen war: “Ich drückte die letzten Reste aus dem Wattebäuschen, was auch immer das dann war, nur um irgend etwas in der Spritze zu haben. Ich brauchte mittlerweile sogar das Ritual des Fixens. Wenn ich heute zurückschaue, mus ich feststellen, daß mir nur noch die Drogenbeschaffung den Kick brachte, der Stoff selbst zeigte keine Wirkung mehr. Das große Ding war, etwas zu bekommen, ohne daß mir der Kopf weggeblasen wurde.”
 

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Kapitel 10
Kill The Pain


Sorgen von ganz anderem Gewicht hatten Anfang 1996 Martin Gore, Andy Fletcher und Daniel Miller, die sich Gedanken um die Besetzung des Produzentenpostens f:ur das geplante neue Material von Depeche Mode machen mußten. Flood schied von vornherein aus, weil ihm die Arbeit am letzten DM-Album “Songs Of Faith And Devotion” noch in reger Erinnerung war und er ein derartiges Chaos keinesfalls ein zweites Mal erleben wollte. Auch mußte der zukünftige Produzent die Rolle Alan Wilders mittragen, die Band und ihre Musik also möglichst gut kennen. Miller meinte, in Gores ersten Demos einen Ansatz von Dancemusic herauszuhören und schlug den DJ und Produzenten Tim Simenon von dem relativ bekannten Projekt Bomb The Bass (größter Hit “Beat Dis”, 1988) vor. Da der Band auch das von ohm produzierte Album “Shag Tobacco” des ehemaligen Virgin Prunes-Musikers Gavin Friday ausgesprochen gut gefiel und Simenon sich zudem selbst als langjährigen Fan von Depeche Mode bezeichnete, wurde er zu Probesessions eingeladen. Es war nicht seine erste Arbeit für die Band, wohl aber die erste mit ihr. Er fertigte in der Vergangenheit bereits einen Remix für “Strangelove”, der ursprünglich auf der amerikanischen “Strangelove”-Maxi (1988) und später auf der Single “Everything Counts Live” erschien, an und war an weiteren Remixarbeiten wie beispielsweise “Enjoy The Silence” (The Quad: Final Mix)” beteiligt.

Im Eastcote-Studio in London traf man sich schließlich zu den ersten lockeren Sessions. Die Umstände waren ungewohnt ohne Alan Wilder, und die meiste Zeit blieb auch der Sänger David Gahan fern. Onfolge dessen wurde die Ziele vorerst nicht sehr hoch gesteckt. Schell wurde klar, daß Simenons technisches Verständnis nicht ausreichend war, um Wilder vollständig zu ersetzen. So arbeitete neben dem Produzenten bald auch seine angestammtes Studio-Triple “T.O.Y.”, bestehend aus Q (Engineering), Kerry Hopwood (Programming) und Dave Clayton (Keyboards), anstelle des ausgeschiedenen Wilder. “Ich weiß, was man mit Computern machen kann und arbeite mit Leuten zusammen, die sich gern mit Gebrauchsanweisungen beschäftigen und stundenlang vorm Computer sitzen können”, äußerte sich Tim Simenon über sein Team. “Ich mach Vorschläge und sie suche nach entsprechenden Sounds. So mache ich schon immer Musik.” Fletcher und Gore zeigten sich sehr zufrieden mit dieser neuen Konstellation, Gore meinte sogar, damit die bequemere Variante gefunden zu haben, weil die maßgebenden Personen “besser zu manipulieren seien als Alan”. Auch verbrachte der bisher für Passivität und Desinteresse, sobald an seinen Songs mühevoll und wochenlang gearbeitet wurde, bekannte Songwriter mehr Zeit als üblich in produktiver Studioaktion, was sich mehr durch seine direkte körperliche und geistige Anwesenheit ausdrückte als durch harte Arbeit an den Maschinen: “Martin diskutiert nicht viel über Musik”, erklärt Simenon. “Ich versuchte ständig, mit ihm darüber zu reden, ein Feedback zu bekommen. Aber wenn ihm etwas gefiel, sagte er gar nichts. Wenn etwas nicht in Ordnung war allerdings schon. Er schlug dann etwas anderes vor.”

“Home” war der erste Song, den Martin Gore nach der Tour geschrieben hatte, doch ein musikalisches Gesicht erhielt er als einer der letzten. Nach sechs Wochen waren drei andere Songs, die “Sister Of Night”, “Useless” und “Insight” heißen sollten, so gut wie fertig, lediglich der Gesang fehlte – wie üblicherweise in diesem Produktionsstadium. Es folgte eine kurze Pause, während dieser auch “Barrel Of A Gun” geschrieben wurde, und als die zweiten Sessions in London zu Ende gingen, waren sechs Songs bereit für ihre letzten Komponenten, die Gesangsparts. Man kam zügig voran, wie man zunächst meinte, mußte sich aber bald korrigieren, Dave Gahan erklärte, es satt zu haben, ständig nach England fliegen zu müssen und so beschloß man unter allgemeiner Zustimmung, für die Aufnahmen des Gesangs in die USA zu wechseln, um den Sänger zu entlasten. Der anfängliche Optismus trübte sich schon kurz nach den ersten katastrophalen Resultaten, die Gahans geschundene Stimmbänder und sein schwacher körperlicher Allgemeinzustand hervorbrachten. Der Sänger: “Neunzig Prozent der Zeit stand ich unter Drogen, die restliche ging es mir schlecht wegen des Entzugs. Mir wurde zunehmend bewußt, daß ich nicht die Kraft hatte, länger als eine Stunde vor dem Mikro zu stehen, ohne daß ich mich dann hinlegen und sterben wollte.” Ganze zehn Tage brauchte man allein für die Aufnahmen der Lyrics von “Sister Of Night”, die schließlich aus verschiedenen Takes zusammengefügt wurden “Ich kann hören, wie verängstigt ich war. Ich bin froh, daß es den Song gibt, er wird mich immer daran erinnern”, erzählte Gahan nach der Albumveröffentlichung. Mehrmals unterdrücken alle Beteiligten den Gedanken, die Aufnahman abzubrechen, einmal standan sie kurz davor. Gore kam in seiner Frustration damals irgendwann in den Sinn, die Songs auf einem Soloalbum zu veröffentlichen, doch er wollte dem kranken Sänger noch eine letzte Chance geben: Er sollte umgehend nach Hause fahren, sein Problem in den Griff bekommen und sich dann einen Gesangslehrer nehmen. Gore und Fletcher reisten zurück nach England, Simenon und seine Techniker arbeiten an und mit Gahans Stimme.
 

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Seinen zweiten wirklichen, mehrere Etappen umfassenden Entzug überstand der Sänger und die engagierte Gesanglehrerin Evelyn Halus gab ihr Möglichstes, auch seiner Stimme wieder Kraft zu geben: “Sie war eine nette Person. Es war schön, sie im Studio anwesend zu wissen”, erinnert sich Simenon. “Wir schafften während dieser Session sogar einen Gesangspart, den für ‘It’s No Good’. Dann brach der Wahnsinn aus.” Obwohl erst wenige Tage clean, jedoch wegen der vielen Rückschlage in den vergangenen Tagen im Studio verstört und gedemütigt wie nie zuvor, stürzte sich Gahan “in das schlimmste Drogenlage aller Zeiten”, wie er später erklärte. Er wurde ein Junkie mit Todeswunsch, checkte im Sunset Marquis in L.A. ein und spritze sich erneut sogenannte Speedballs, eine bei langjährigen Usern häufig favorisierte Mischung aus Heroin und Kokain, die über die Wirkungen der einzelnen Drogen hinausgeht. “Es war besonders starkes Heroin namens Red Rum, an dem bereits eine Menge Leute gestorben waren,” meinte Gahan ein Jahr später. “Ich dachte zuerst, dies wäre der Name eines Rennpferds oder so, bis mir jemand erklärte, daß man den Namen rückwärts lesen muß und es ‘Mord’ heißt.”

In der Nacht zum 28. Mai 1996, genau um 1.15 Uhr, ging der Notruf ein. Eine junge Frau, die ihren Naman nicht nannte, jedoch wahrscheinlich kurze Zeit zuvor in Gahans Apartment beobachtete, wie dieser sich einen überdosierten Speedball verbreichte und die Versuche eines ebenfalls anwesenden Dealers, ihn daraufhin wieder zu Bewußtsen zu führen, fehlschlugen. Nach wenigen Minuten hörte Dave Gahans Herz auf zu schlagen und seine Hände und Arme begannen sich langsam blau zu färben. Etwa gleichzeitig tragen die Rettungskräfte ein. Als er später die Geschehnisse verarbeitet hat, berichtet er unter anderem, was ihm ein Sanitäter über jene Nacht erzählte: “Ich bekam die komplette Pulp Fiction-Packung und mein Herz begann wieder zu schlagen. Ich erinnere mich ihn verloren. ‘Ich weiß auch, daß zuvor alles schwarz wurde und ich Angst bekam. Ich dachte nur: Das ist nicht richtig, das darf nicht wahr sein. Ich war der Meinung, ich hätte alles unter Kontrolle, könnte selbst bestimmen, wann Dave stirbt, so daneben war ich. Als ich aufwachte, war ich mit Handschellen an einen Polizisten gefesselt, der mir meine Rechte vorlas.”

In einem Zeitungsbericht hieß es: “In der vergangenen Woche ist Dave Gahan zum zweiten Mal in weniger als einem Jahr nur knapp dem Tode entkommen. Aufgrund des Notrufs am 28. Mai um 1.15 Uhr einer jungen Frau, die vorgab, seiner Zimmergenossin zu sein, verschafften sich Beamte des Sheriff-Departments von West Hollywood gewaltsam Zugang zu Gahans Apartment im Sunset Marquis Hotel von Los Angeles. Sie fanden den 34jährigen Sänger von Depeche Mode bewußtlos im Badezimmer. Weiterhin entdeckte die Polizei größere Mengen einer Substanz, die sie für eine Mixtur aus Kokain und Heroin hielten, ebenso Spritzbesteck.”

Gahan wurde umgehend in die Notfallambulanz des Cedars Sinai Krankenhauses gebracht. Dortige Mitarbeiter bestätigten, daß er wegen einer Überdosis behandelt wurde. Während seines Aufenthalts stand er bereits unter Polizeiaufsicht und direkt nach seiner Stabilisierung im 8.30 Uhr folgte die Verhaftung wegen Drogenmißbrauchs und der Abtransport ins Gebäude des Sheriffs von West Hollywood. Mehrere Fakten sprachen gegen einen erneuten Selbstmordversuch. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sein Körper nach dem aus zwölf Schritten zusammengestzten Entzugsprogramm nicht in der Lage, die starken Drogen zu verkraften, und die rund zwei Minuten Zustand klinischen Todes sind als ein Unfall zu werten. Zwei Tage mußte Gahan im Gefängnis verbringen, danach kam er bis zu seiner Verhandlung, angesetzt für Februar 1997, auf freien Fuß. Eine Videoaufnahme, die unmittelbar im Anschluß an seine vorläufige Freilassung entstand, zeigt ihn in einem erbärmlichen Zustand mit verspeigelter Sonnenbrille und blutiger Schramme auf der rechten Wange in Jonathan Kesslers Wagen. In einem kurzen, schwer verständlichen Statement wurde klar, daß er nicht mehr der Dave Gahan war, der zwei Jahre zuvor auf der Bühne überzeugend den reinkarnierten Jesus mimte. In unvollständigen wirren Sätzen erklärte er erstmalig öffentlich, heroinabhängig zu sein, aber am Leben bleiben zu wollen. Deutlich Reue zeigend, entschuldigte er sich bei seinen Fans und bei seiner Mutter.

Die Medien stürzten sich auf diese Sensationsmeldungen wie Geier. Die Berichte über das Drogenwrack und dessen kurzzeitigen Tod waren zahlreicher und ausführlicher als sie jemals zu irgendeiner Tournee oder einem neuen Album der Engländer gewesen waren. Mit einem Schlag waren Depeche Mode wieder hochinteressant und selbst die Sunday Times widmete ihnen eine Doppelseite. Dave Gahan versuchte in den ersten Interviews, seine düstere Vergangenheit ausführlich auszubreiten in der Hoffnung, daß der Rummel sich bald wieder legen würde und die Musik und Band in den Vordergrund treten, aber jeder einzelne Journalist wollte die Story aus erster Hand erfahren und die meisten Artikel schilderten breit und schockierend den Sumpf, aus dem Der Depeche Mode Frontmann um Haaresbreite nicht mehr lebend entkommen wäre. Promotionszwecken war dies sicher dienlich, doch aus künstlerischer Sicht eher traurig.

Gahans umgehend freiwillig angetretene Therapie wirkte zwar strafmildernd, doch das über ihn verhängte Urteil schrieb vor, daß zwei Urinproben pro Woche über einen Zeitraum von zwei Jahren nicht die geringsten Spuren irgendeiner illegalen Substanz aufweisen dürften, damit er seine Freiheit behalten konnte. Sollte sich eine Test als positiv herausstellen, würde er zwei Jahre hinter Gittern verbringen müssen. Gahan begab sich in die Entzugsklinik Exodus, in der sich unter anderem schon Kurt Cobain und Shannon Hoon, der Sänger von Blind Melon – beide jedoch erfolglos, wie ihr späteren Selbstmorde zeigtenbehandeln ließen. Die ersten fünf Tage des Programms waren nach Angaben des Sängers die schlimmsten. Festgeschnallt und rund um die Uhr bewacht, quälten ihn Anfälle im Stundentakt, so heftig waren die Enzugserscheinungen. Danach folgten die Gruppensitzungen. “Zum ersten Mal hörte ich wirklich zu, das war der Unterschied”, sagte er ein einem dieser Interviews, die er vielleicht besser nie gegeben hätte. “Ein Süchtiger denkt, daß die Welt ihn ausgeschlossen hat und er komplett allein ist. Dort wird einem dann vor Augen geführt, daß es vielen Menschen, mit den verschiedensten Lebensläufen, genauso geht wie einem selbst. Im Exodus wurde mir erst richtig bewußt, daß dieser ganze Scheiß mein Leben zerstört hatte. Er hat mir meine Seele geraubt und einen verdammten, leeren Körper zurückgelassen. […] Wie zum Henker bin ich überhaupt in diesen Schlamassel geraten, könnte man fragen. Doch wenn man mit dem Teufel ist. […] Sollte es einen Gott geben, hat er mich von diesem Zeitpunkt an verlassen und ich blieb als wandelnde Hülle zurück, so hat es sich jedenfalls angefühlt. Ich konnte mich nicht einmal mehr im Spiegel betrachten. Sofern Drogen und Alkohol Gaben Gottes sind, habe ich meinen fairen Anteil bekommen. Doch anstatt sie über mein ganzes Leben zu verteilen, habe ich sie in kurzer Zeit aufgebracht. Manchmal ist es etwas langweilig, aber ich möchte heute nicht mehr sterben. Vor sechs Monaten war ich bereit dazu, das Handtuch zu werfen.”
 

demoderus

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Gahan lebte eine Zeitlang in einem Heim für Exsüchtige und zog anschließend nach New York. Drogen hat er seitdem nie wieder angerührt. Zudem ist er trockener Alkoholiker, nicht zuletzt weil der Alkohol nach wie vor seine Hemmschwelle härteren Stoffen gegenüber herabsetzen könnte.

In der Zwischenzeit hatte man in den Londoner Abbey Road Studios die Arbeit wieder aufgenommen und auch Dave nahm jetzt regelmäßig an den Aufnahmen teil. Die Atmosphäre war entspannter als zuletzt. Man spürte, daß es voran ging und an einer positiven Sache gearbeitet wurde. Gareth Jones, ein alter Bekannter von früheren Produktionen, sowie die Gesanglehrerin waren bei den Aufnahmen des Gesangs zugegen. Als weitere Gastmusiker fungierten unter anderem Jaki Liebezeit (Percussions für “The Bottom Line”) Keith Le Blanc (Drums für “Useless”), Danny Cummings (Percussions für “Useless” und “Freestate”) und Daniel Miller, der bei “Uselink” seit langem mal wieder selbst zum Synthesizer griff. Nach nur einem Monat war die Stimme weitgehend im Kasten. “Die Vocals, die Dave auf dieser Platte abgelieffert hat, sind fantastisch”, meint Andy Fletcher. “Damals, als er krank war, riet man uns, einen neuen Sänger zu suchen und ihn rauszuschmeißen. Aber Dave wäre auch nie zur mir gekommen und hätte gesagt, Gore sei Scheiße und wir bräuchten einen neuen Songwriter. Seine Stimme und Martins Songs machen Depeche Mode aus.” Nach dem Feinschliffe im Spätherbst wartete das neue Album mit dem Titel “Ultra” auf seine Veröffentlichung im nächsten Jahr.

Als Appetitmacher erschien am 3. Februar 1997 die Single “Barrel Of A Gun”. Die Aufregung war gewaltig, als die Videopremiere fast zwei Wochen vor dem Release breit angekündigt über die Musikkanäle flimmerte. “Barrel Of A Gun” wirkte zunächst ungewohnt hart in seiner komplexen Gestalt hinter amerikanisch-industriell anmutender Geräuschkulisse und Gahans leicht verzerrter Stimme, doch die Fans, die sich in den vorangegangenen gut drei Jahren mit Live- oder Remix-CDs vom riesigen Bootlegmarkt zufriedengeben mußten, waren erleichtert, überhaupt wieder etwas Neues zu hören. Und wie schon zuletzt bei den Titeln auf “Songs Of Faith And Devotion” dauerte die Skepsis nur wenige Hördurchgänge an bis diese Single in kurzer Zeit zum DM-Meilenstein avancierte. Der wirkungsvolle Videoclip mit surrealen Szenen, die Dave Gahans Irrweg der letzten Jahr thematisieren, zählt zu Anton Corbijns bekanntesten Videos aller Zeiten. Man erinnere sich nur an die bemalten Augenlider und den mit vielen kleinen Glühbirnen besetzten weißen Fellmantel, worin sich der Sänger durch ein Labyrinth tastete. Zum Text von “Barrel Of A Gun” erklärte Martin Gore, daß erstmalig nicht ausschließlich seine Sichtweise in Worte gefaßt wurde, sondern Daves Erlebnisse eine tragende Roll spielten.

Mit einem sensationellen Neueinstieg auf Platz drei der deutschen Singlecharts und Top Five-Plazierungen auf der ganzen Welt übertraf diese erste Single aus “Ultra” alle Erwartungen. Trotz des langen Zeitraumes ohne neue Songs erwachte die Fanbasis zeitgleich aus ihrem Schlaf, der jedoch höchstens als ein oberflächlicher Dämmerzustand beschrieben werden kann, wenn man die zahlreich organisierten und besuchten Parties sowie die funktionierenden Fanclubs in der Zwischenzeit einbezieht. Nicht wenige erneut vom Fieber für Depeche Mode heimgesuchte Fans hatten sogar für den Tag dieser Veröffentlichung Urlaub beantragt, um den Kauf nicht unnötig zu verzögern. “Barrel Of A Gun” erschien sowohl als CD mit ungewöhnlicher, umgekehrter Booklet-Bestückung in durchsichtigen Plastiktrays und natürlich auf Vinyl, jeweils mit der Singleversion, Remixen des Stücks und dem Instrumental “Painkiller” mit einem fantastischen Höhepunkt in der Songmitte. Eine zweite Auflage mit anderem Coverartwork enthielt weitere Remixe von beispielsweise Underworld und Plastikman – begnadeten Vertretern der innovativen Techno- und Clubszene, die im Falle Underworlds jedoch eine Version aus dem Song machten, die mit doppeltem Tempo und geänderter Tonart einen gänzlich neuen Track ergab. Mit einigen Ausnahmen konnte dieser dann lediglich die House-DJs und deren Publikum begeistern. Diese unbeliebte Eigenschaft vieler Remixe kam erstmalig hier tragend zum Vorschein und gab auch den meisten folgenden Auskopplungen einen negativen Touch, da kaum eine der prinzipiell in mehreren Ausführungen erschienenen Maxis nach dem Kauf von leidenschaftlichen Sammlern mehr als ein- oder zweimal komplett durchgehört werden konnte. Vorbei waren die Zeiten, als interessante zusätzliche Songs oder Mixe im bandnahen Stil mit Begeisterung aufgenommen wurden. An dieser Tatsache hat sich bis heute nichts verändert.
 

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Genau zwei Wochen vor der Albumveröffentlichung am 31. März wurde eine zweite Single ins Rennen geschickt. Im krassen Gegensatz zur schweren Kost des ersten Vorboten hätte “It’s No Good” stilistisch auch in die Bandphase der ausklingenden Achtziger oder beginnenden Neunziger gepaßt. Mit deutlich einsehbaren Strukturen, die der kommerziellen Popmusik näher stehen als die eines jeden Songs des letzten Studioalbums, einer einprägsamen Gesangsmelodie und warmen Flächen aus dem Synthesizer brachte dieser Song all Voraussetzungen mit, den Überhit “Enjoy The Silence” von seinem Thron zu stürzen. “It’s No Good” erreicht dennoch nicht ganz diese Popularität, trotz erneuter Notierungen in den Top Five. Er war jedoch eingängig genug, auch weit abseits des inneren Fankreises Interesse zu wecken, und nicht zuletz zerstreuten sich jetzt auch die bangen Befürchtungen, “Ultra” könnte sich durchgängig ungewöhnlich experimentell und gitarrenlastig gestalten. Neben starker Radiopräsenz lief auch der Clip zum Song auf Heavy Rotation im Musikfernsehen. Anton Corbijn hatte für Depeche Mode bislang keinen auch nur annähernd so witzigen und selbstironischen Film gedreht. Der gravierende optische Unterschied zum beklemmenden “Barrel Of A Gun” verwirrte zunächst etwas und die Parallelen zum Text des Songs bleiben hier im Dunklen. Trotzdem war es amüsant, die sonst häufig düster und humorlos dargestellte Band im Sixities-Style als abgemeldete, erfolglose, doch sich selbst überschätzende Livemusiker durch schäbige Bars tingeln zu sehen, und Dave Gahans Rollenspiel ließ die Betrachter mit der Gewißheit zurück, daß an ihm ein Charakterdarsteller verloren gegangen ist.

Tatsächlich waren dann die beiden vorab veröffentlichten sehr unterschiedlichen Songs, selbst wenn man sich eine musikalische Fusion zu gleichen Anteilen vorzustellen vermochte, nicht im geringsten repräsentativ für die insgesamt zwölf (die nicht im Booklet aufgeführte Minimalversion von “Painkiller” bezeichnet, eingerechnet) Titel des Albums, welches am 14. April 1997 erschien. Im Vergleich zu den teils bombastischen Arrangements auf “SOFAD”, auf die Alan Wilder Wert gelegt hatt, wirkt “Ultra” über lange Strecken dezent, manchmal spartanisch. Weiterhin auffällig sind die flexiblen Rhythmen der meisten Songs. Den statischen, maschinellen Puls vergangener Tage hört man nur noch in Ansätzen: Depeche Mode hatten den Groove für sich entdeckt. Anders als man von einem Dance-Produzenten wie Tim Simenon erwartete hätte, überschreitet man dabei kaum die Grenze von 1000 BPM und schafft durch harmonische, sehr individuelle Melodien, akustische Instrumentierung und elektronisches Beiwerk in einem optimalen Verhältnis und penibel eingearbeitet eine intime und sinnliche Atmosphäre, die immer wieder von Melancholie oder Ausgelassenheit ergänzt wird. Höhepunkte neben den bereits bekannten Songs und der dritten Single “Home” find sich reichlich. Überhaupt ist es erstaunlich, welche Resultate die kurz zuvor noch unbrauchbare Stimme Dave Gahans hier wieder erzielen konnte. Würde es bestimmte Parameter geben, die einen objektiven Vergleich seiner Gesangsleistung zuließen, hätte “Ultra” im Hiblick darauf alle Chancen zu den besten drei Alben gezählt zu weredn. “The Love Thieves” ist einer dieser unscheinbaren Songs, die ihre hintergründigen Reize mit Geduld entdeckt wissen wollen. Wegen seiner wenigen instrumentalen Mittel tritt hier der gefühlsbetonte Gesang in den Mittelpunkt, während bei “Freestate” eine auffällige Western-Note in den Gitarrenriffs mitschwingt. “Insight” ist vielleicht das melodischste Lied und in seinen Grundzügen vergleichbar mit “Higher Love” und “Waiting For The Night” von den beiden Vorgängeralben. Einzig “Useless” wirkt in der Albumversion etwas schwachbrüstig, was man anscheinend selbst bemerkt hatte und auf der späteren Single kompensieren konnte.

Selbst mit dem aus dem Konzept ragenden Einstiegssong “Barrel Of A Gun” wirkt der Titel “Ultra”, mit dem man am ehesten etwas Extremes, Außergewöhnliches verbinden würde, konträr zur gebotenen Musik mit Schwerpunkt auf besonnenen Balladen oder Midtempo-Songs. Martin Gore kann jedoch keinen Widerspruch ausmachen: “Meiner Meinung nach drückt das Wort ‘Ultra’ etwas Positives aus, und etwas Humor steckt auch mit drin, wo wir doch seit Alan Ausstieg ein neues, schlankeres Produkt aus drei Teilen bilden. ‘Depeche Mode Ultra’, wenn man so will. Gerade für diese Epoche unserer Karriere, nach den schweren letzten Jahren und dem Erfolg, den wir immer nich haben, paßt der Titel perfekt. Außerdem hatten wir von Anfang an nicht vor, ein extremes Album aufzunehmen.”

Vor allem die englische Musikpresse scheint dieses Album nicht verstanden zu haben. Möglicherweise wurde zum einen so etwas wie eine allgegenwärtige, eindeutige Beichte erwartet anstelle von intimer Zurückhaltung mit großem Spielraum für Interpretationen. Zum anderen verwechselte man oft die fehlende Komplexität im Vergelich zum Vorgänger mit Oberflächlichkeit und Lieblosigkeit. Wirklich gute Kritiken gab es kaum und Gore mußte erkennen: “Bei den Kommentaren, die wir für diese LP in der Presse bekamen, wird kaum jemand einen Kaufanreiz verspürt haben.” Auch in Amerika hatten Depeche Mode einen schwereren Stand als zuletzt. Nine Inch Nails mit Marilyn Manson im Fahrwasser oder The Prodigy mit ihren, NIN ausgeschlossen, aufgesetzten Schock-Images, waren die neuen Superstars, die ihre Käufer aus der selben Zielgruppe wie Depeche Mode rekrutierten, und dagegen wirkte ein gefühlsbetontes Album wie “Ultra” regelrecht unspektakulär. So behielt man zwar die große, fest verwurzelte Fanbasis auf seiner Seite, aber die zusätzlichen Spontankäufe wenig festgelegter Konsumenten aus dem Mainstream oder aus anderem musikalischen Subkulturen, wenn man diese einmal verallgemeinern wollte, fielen vor allem in Amerika vergleichsweise gering aus. Das auflagenstarke amerikanische Blatt L.A. Times hatte lokal gesehen recht mit seiner Prophezeiung: “Ultra” wird kaum irgendwelche neuen Fans anlocken, die zur Zeit der neuesten Electronic-Welle zujubeln.” In Europa, in den Staaten des ehemaligen Ostblocks sowieso, aber speziell in Deutschland sah es etwas anders aus. Die riesige Alternativszene, an erster Stelle dabei die sogenannte schwarze- oder Gothicszene, erkannte die tiefgründige, authentische Traurigkeit in Martin Gores Texten und die allgegenwärtige Melancholie in der Musik. Aus längst existierender breiter Akzeptanz wurde nicht selten diese merkwürdige Liebe zu Depeche Mode, deren Ursprung sich dennoch nicht eindeutig auf diese zwei Komponenten beschränken und schon gar nicht verallgemeinert schildern läßt. So individuell wie die Gesellschaft gestalten sich die Charaktere der erklärten Anhänger. Parallelen lassen sich noch am ehesten in einem ähnlichen Sinn für Ästhetik, sprich die künstlerische Verbindung von akustischen und visuellen Komponenten, finden, sowie in einer nach Möglichkeit unangepaßten Lebensführung. Oftmals gehen Fans in der Beschreibung ihres Verhältnisses zur Band so weit, daß man den Eindruck bekommt, sie würden über eine süchtig machende Droge sprechen und nicht über Musiker.
 

demoderus

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In England und in Deutschland steigt “Ultra” von Null auf Eins in die Abumcharts ein, in den USA erreicht es mit dem fünften Platz die zweithöchste Notierung hinter “Songs Of Faith And Devotion” (erster Rang) und mit bisher rund 4 Millionenabgesetzten Exemplaren weltweit liegt es an dritter Stelle hinter Violator (ca. 7 Mio.) und “SOFAD” (ca. 5 Mio.), in etw auf gleicher Hhe mit “Black Celebration” und “Music For The Masses”. Offiziell bestätigte Angaben dazu existieren nicht, verschiedene, gleichlautende Quellen lassen jedoch den Schluß zu, daß diese Zahlen mit geringen Abweichungen der Realität entsprechen. Weltweit vermehren sich die Verkäufe zudem um durchschnittlich 100.000 Einheiten pro Album und Jahr.

Trotz des alles in allem immensen Erfolges von “Ultra” erklärte die Band von Anfang an, erstmalig im Anschluß an eine Abumveröffentlichung nicht auf Welttournee zu gehen, schloß diese jedoch für das kommende Jahr nicht aus. Vor allem Dave Gahan erklärte, daß er sich dieser Belastung nicht gewachsen fühlen würde. Es gab jedoch zwei kleine “Secret-Concerts” im Londoner Club Adrenaline Village (April 1997) sowie un der Shrine Exposition Hall von Los Angeles (Mai), bei denen neben dem Klassiker “Never Let Me Down Again” zwei verschiedene Intros “Uselink” beziehungsweise “Painkiller” sowie vier Songs, “Barrel Of A Gun”, “Useless”, “It’s No Good” und “Home” vom neuen Album für geladene Fans, Freunde und Medienvertreter gespielt wurden. Der Welt bewies man seine ungebrochenen Livequalitäten, indem man drei der gespielten Sogns auf die zwei fogenden Singleauskopplungen aufteilte. Des weiteren trat die Band mit “It’s No Good” bei diversen Fernsehshows in England, Frankreich oder Deutschland (“RTL Samstag Nacht”) auf.

Der Privatsender RTL übernahm einen Großteil der Album-Promotion für Deutschland und arrangierte deshalb auch auf seiner Bühne während der Internationalen Funkausstellung in Berlin am 31. August 1997, übrigens der Tag, an dem der Tod Prinzessin Dianas vollständig die Medien beherrschte, die Verleihung der goldenen Schallplatte für das letzte Album. Die Band bis auf Martin Gore, der sich am Set zum in Arbeit befindlichen Videoclip zu “Useless” aufhielt, war neben Daniel Miller, Jonathan Kessler und Vertretern von Intercord, der deutschen Vertriebsfirma von Depeche Mode, persönlich anwesend. Um einen Massenauflauf zu vermeiden, wurde versucht, dieses Ereignis geheim zu halten. Lediglich das nicht mehr existierende New Life Soundmagazin welches auf die Elektronikszene spezialisiert war, schien Wind davon bekommen zu haben und schrieb in einer kurzen Newsmeldung wenige Tage vorher von der Wahrscheinlichkeit dieses Events. Drei spekulative Sätze, die offensichtlich ausreichend waren, mehrere hundert Fans in die Hauptstadt zu locken, von denen ein Teil bereits am Vormittag ihre Objekte der Begierde am Flughafen empfing. Pünktlich um 17 Uhr betraten Depeche Mode dann unter tosendem Beifall die Bühne und erhielten von der Moderatorin Birgit Schrowange die edelmetallene Auszeichnung fur in wenigen Monaten verkaufte 400.000 Exemplare von “Ultra”.. Die zum Teil seit den Morgenstunden ausharrenden Fans bekamen zwar aufgrund der unzureichenden technischen Gegbenheiten weder einen erhofften Kurzgig, noch die kurz zuvor noch versprochene Autogrammstunde, wegen des unvorhergesehenen Andrangs nicht entsprechend getroffener Sicherheitsvorkehrungen, aber den Kurztrip nach Berlin wird niemand bereut haben.

Nachdem die Veröffentlichung eines Greatest Hits-Albums, dem Nachfolger von “The Singles 81-85”, mit einem oder mehreren neuen Songs als beschlossene Sache für das kommende Jahr erklärt wurde, war das letzte Ereignis in 1997 die Auskopplung “Useless” am 20. Oktober. Wie zuvor schon erwähnt, bekam die Singleversion eine frischen Anstrich vom begehrten Produzenten Alan Moulder, der in der Vergangenheit unter anderem von U2, The Cure oder Nine Inch Nails engagiert worden war. Sein Remix übertrifft die ursprünglich weniger ambitioniert klingende Version, da er die Drumlinie verfeinerte und Sounds aus dem Keyboard dazumischte. Auch das für seine fantastische Arbeit in der Welt des Trip-Hop bekannte Produzentenduo Kruder & Dorfmeister gab “Useless” einen markanteren neuen Ansatz. Anders als zur vorangegangenen Single “Home”, deren Titelstück allein betrachtet eine der besten von Martin Gore gesungenen Balladen darstellt, deren Remixe und Video (Regisseur: Steve Green) indes nicht zuletzt erbrachten Qualitätsstandards entsprachen, führte Corbijn wieder die Regie beim Dreh des “Useless”-Clips. Aufgenommen in für Depeche Modes Videos beinahe typischer, wüstenähnlicher Einöde, bekommt die Handlung mit den aggressiven Gebärden des Sängers nur einen Sinn, wenn der Zuschauer genau auf die letzten zwei Sekunden des Clips achtet, in denen die Kamer umschwenkt. Grandiosere Einfälle hatte Corbijn in seiner Zeit als Regisseur wohl selten.

Zurückblickende erhoben sich Depeche Mode in diesem Jahr in der Tat wie der für ihr Comeback häufig Umschreibung gebrauchte Phönix aus der Asche. Und mit den vielen ereignisreichen Aussichten für das folgende Jahr erlebte man das ausklingende Jahr 1997, das Ende der “Ultra”-Ära, ohne die Befürchtungen, eine weitere mehrjährige Pause würde s ich anschließen.
 

demoderus

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Kapitel 11
It’s Only When I Am On Tour


Am 8. April 1998 wurde das Tribute-Album “For The Masses” auf dem amerikanischen label A&M Records (Geffen) veröffentlicht. Sampler mit Coverversionen von Depeche Mode erschienen seit Beginn der neunziger Jahre regelmäßig, vor allem im Land mit der nach Deutschland prozentual zweitgrößten Fanschar, Schweden. “I Sometimes Wish I Was Famous”, 1991 auf dem schwedischen Label Energy Records erschienen, war der erste nennenswerte dieser Art. Die meisten der folgenden Tribute können dagegen getrost als überflüssig betrachtet werden, da sie fast ausschließlich zweit- oder drittklassige Bands aus der Electro-Szene vereinten, die sich an den Songs ihrer Einflußgeber zu schaffen machten, ohne auch nur im geringsten an die Qualität der Originale heranzureichen. Für den traurigen Höhepunkt dieser Cover-anie sorgte 1997 die deutsche Synthiepop-Band X-Act, die nur wenige Tage nach der Veröffentlichung von “Barrel Of A Gun” eine furchtbare Interpretation des Songs mit zunächst unwissentlich falschem Text auf den Markt brachte. Das wirklich schlimme dabei war, daß ihre Plattenfirma Zoth Ommog, die bis dahin für qualitiativ hochwertiges Material bekannt war, diesen Song als bessere, da dem ursprünglichen Stile Depeche Modes nähere, Version vermarktete.

Etwas anders gestaltete sich nun “For The Masses”. Hochkarätige Bands verschiedenster musikalischer Ausprägung erwiesen Depeche Mode auf diesem Album ihre Anerkennung, Bands, die selbst hoch im Kurs standen oder noch immer stehen und die Steigerungen des eigenen Wertes weder intendiert, noch das anschließende große Aufsehen nötig gehabt hätten. Darunter befinden sich unter anderem The Cure, Rammstein, Smashing Pumpkins, Monster Magnet, Meat Beat Manifesto oder Deftones. Ihre Neuinterpretationen tragen ohne Ausnahme Chrakterzüge des eigenen Schaffens, klingen aufwendig, durchdacht und interessant. Besonders herausragende Resultate erzileten dabei Gus Gus mit “Monument” und Locust mit “Master And Servant”. Mit einer Plazierung in den Album-Top 20 in Deutschland und weiteren Spitzenrängen auf der ganzen Welt ging “For The Masses” zurecht als erfolgreichstes Tribut-Album aller Zeiten in die Musikgeschichte ein. Die Gruppe Rammstein koppelte ihre Coverversion von “Stripped” als Single aus. Rammstein landeten einen Superhit und sorgten mit dem dazugehörigen Clip, der Bilder aus dem umstrittenen Olympia-Film von Leni Riefenstahl zeigt und mit NS-Ästhetik spielt, für kontroverse Schlagzeilen.

Im Sommer 1998 begannen Depeche Mode mit der Studioarbeit für neue Songs. Wie schon zuvor für die LP “Ultra” wurde Tim Simenon als Produzent verpflichtet, als man sich in den Eastcote- und Abbey Road-Studios einquartierte. Simenon erklärte: “Es war wirklicht nett, daß Daniel Miller anrief und mich um die Produktion einer Single bat. Diese Sessions kann man nicht mit der Arbeit an ‘Ultra’ vergleichen. Als Dave von Martin die Demos bekam, fing er zwei Wochen vor seinem Flug nach England an, mit seiner Gesanglehrerin Evelyn zu arbeiten. Als er eintraf, hatte er die Melodien vollständig verinnerlicht und die Session verging wie im Flug. Er war ein völlig neuer Mensch geworden, die Aufnahmen verliefen reibungslos und dauerten nur zwei Monate.” Dave Gahan sah in den neuen Songs die Fortsetzung dessen, was auf “Ultra” begonnen wurde. Die Songs hatten langsame, groovende Rhythmen, viel Seele und waren wieder mit ausgesprochen sicherem Gesang versehen. “Ich bilde mir nicht ein, der Größte seit der Erfindung des Rades zu sein, aber ich meine, mich wieder gefunden zu haben. Ich bin sehr dankbar für die Chance, bei einer Arbeit dabeigewesen zu sein, die wirklich kreativ war. Ich habe gemerkt, daß es etwas ist, was ich für mich tue und nicht für irgend jemand anderen. Ich habe mich selbst vor die Aufgabe gestellt, immer besser zu werden, habe mir meine Gedanken über den Text gemacht, den Martin für das Stück geschrieben hat, und versucht; herauszufinden, wie ich ihn verstehe. Ich denke, so beeinflussen wir uns gegenseitig und das ist es, was Depeche Mode noch immer funktionieren läßt.”
 

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“Only When I Lose Myself” hieß die neue Single, die am 14. September 1998 in den Handel kam. Das Titelstück war zwar nach dem relaxt wirkenden letzten Album auch alles andere als ein überfälliger Uptempo-Knaller, wurde aber hauptsächlich mit großer Begeisterung aufgenommen. Thematisch und musikalisch war es am Konzept des vorangegangenen Albums angelehnt, vielleicht etwas pathetischer arrangiert. “Ich habe Liebe stets als eine Art von Besessenheit empfunden”, berichtete der Komponist zu den Hintergründen des Textes. “Die Leute sagen immer, voneinander abhängig zu sein. Auch ich habe Verliebtheit stets als eine Abhängigkeit gesehen, das ist doch der Kern aller Liebe.” Zum Videoclip bleibt anzumerken, daß erneut nicht Depeche Modes Hausregisseur mit dem Dreh beauftragt wurde, sondern an Stelle von Anton Corbijn der derzeit für die Plattenfirma Mute an mehreren anderen Produktionen arbeitende Regisseur Brian Griffin. Wie schon Steve Green mit dem Clip zu “Home” konnte Griffin mit seiner visuellen Umsetzung nicht vollständig uberzeugen. Weder bekam man den Eindruck, passende Bilder zur Aussage des Titels zu sehen, noch glänzt der Kurzfilm durch in anderer Hinsicht bemerkenswerte Szenen, in denen anstelle der selten dargestellten Band Autowracks und amüsierte Menschen vom Schlage erolfgreicher Geschäftsmänner oder Supermodels gezeigt werden.

Zwei neue Titel auf der B-Seite einer Single von Depeche Mode befanden sich zuletzt im Jahre 1990 auf “World In My Eyes”. Die Bonustitel “Surrender” und “Headstar” machten nun auch “Only When I Lose Myself” zu einer besonderen Veröffentlichung. Die von Blues und Lounge-Musik beeinflußte Ballade “Surrender” ist merkwürdig untypisch für die Band, aber fantastisch von Dave Gahan besungen und von einer eingängigen Melodie geprägt. Das Instrumental “Headstar” hingegen ist austauschbarer und wird wegen seines sich ständig wiederholenden Themas schnell uninteressant. Spannender waren hingegen einige Remixe auf den zwei weiteren Ausführungen der Single mit unterschiedlich gefärbten Booklets, wovon die grüne einige Wochen später veröffentlicht wurde. Der Subsonic Legacy Remix von “Only When I Lose Myself” wird von kühlen Ambientsounds durchzogen und sogar von einer weiblichen Stimme ergänzt. Gus Gus gelang es, den Song clubtauglich zu machen, ohne dabei seinen Charakter zu entstellen. Auch dem von pumpenden Techno-Beats angetriebenen Safar Mix von “World In My Eyes”, der zuvor schon auf einem Bootleg veröffentlicht wurde, läßt sich einiges abgewinnen.

In England, wo die Britpop-Welle zu dieser Zeit einen Höhepunkt nach dem anderen erlebte, interessieren sich seit der Veröffentlichung von “Ultra” noch weniger Menschen für ihre Weltstars als zuvor. Und während “Only When I Lose Myself” in sonstigen Europa aus dem Nichts an die Spitze der Charts (Deutschland: Rang 2) schnellte, erreichte die Single in der Heimat von Depeche Mode einen enttäuschenden 17. Platz.

Am 28. September erschien “The Singles 86>98” als Doppel-CD beziehungsweise als limitierte LP-Box mit drei Vinyl-Platten und umfangreichem Booklet. Alle Singles seit 1986, wie der Titel besagt, wurden in chronologischer Reihenfolge, mit Ausnahme von den an das Ende gestzten Songs “Little 15”, welches nur in einigen europäischen Ländern ausgekoppelt wurde; und “Everything Counts”, welches in seiner Liveversion von 1988 aus dem Konzept fiel, zusammengestellt. Einmal mehr verdeutliche diese zweit Best Of-Kopplung den großen Stellenwert von ihrer psychischen wie physischen Talfahrt hinterlassen hatten, wobei sie als Künstler gerade erst wieder am Beginn eines gewaltigen Aufschwungs standen. Wie zu erwarten war, erreicht auch dieses Album wieder in Deutschland, Frankreich, Schweden und anderen Ländern den ersten Platz der Albumcharts, in den britischen Charts bezeichnender Weise nur Platz 5. Nun bestand kein Zweifel mehr an der Einsicht, daß Depeche Mode in England ihr zweites, kurzzeitiges Hoch nach Karrierebeginn auch schon wieder hinter sich gelassen hatten, mit medienwirksamen Skandalen von Bands wie Oasis einfach nicht mehr dienen konnten, geschweige denn wollten, und trotz ihres erfolgreichen Sprunges in die Neunziger schicht und ergreifend wieder mit längst bedeutungslos gewordenen Bands wie Duran Duran oder Culture Club über einem Kamm geschoren wurden, die zu allem Überflu&s auch noch zeitgleich mit Greatest Hits-Alben an sich erinnern lassen wollten. Völlig unbeachtet blieb hier jedoch der fundamentale Unterschied, daß Depeche Mode 21 erfolgreiche Singles zusammenstellten und nicht einfach wenige wirkliche Hits neben unbedeutendem Füllmaterial mit der Hoffnung auf kaufkrätige Nostalgiker in die Regale stellen ließen.

In Skandinavien bejubelten unterdessen Tausende von Fans die am 9. September in der Hartwall Arena von Helsinki offiziell gestartete “Singles Tour 86>98”, nachdem wenige Monate zuvor bei einer Pressekonferenz in Köln die Termine angekündigt worden waren und man vier zusätzliche Warmups in Staaten der ehemaligen Sowjetunion absolviert hatte. Darunter war auch der erste Gig in Moskau, wo unter großen Umständen bereits 1985 ein Konzert stattfinden sollte, das aufgrund der Heirat Dave Gahans dann aber ersatzlos gestrichten wurde. Ihre erste große Tournee seit vier Jahren sollte Depeche Mode anschließend bis Jahresende durch ganz Europa und Nordamerika führen. Die Gestaltung des Bühnenbildes überließ man erneut Anton Corbijn, dessen vergleichsweise bescheiden gehaltenen Konstruktionen das verwöhnte Publikum nur zum Teil überzeugen konnte. Die räumliche Limitierung, welche die Band und ihre verpflichteten Gastmusiker an Drums, Tasten und im stimmlichen Background mit den Fans in ein intimeres Verhältnis bringen sollte, war das ganze Gegenteil von den sich noch in guter Erinnerung befindlichen “Devotional”-Shows un bühnentechnischer Superlative und die Band unnahbar auf einem überdimensionalen Altar darstellender, beinahe größenwahnsinnig erscheinender Umgebung. In seinem neuen Bühnenbild verzichtete Corbijn nach Anraten Martin Gores auf große Leinwände und spektakuläre Lichteffekte. Alle Aktionen konzentrierten sich auf die Bühnenmitte. Die Instrumente verteilten sich dicht um einen Videowürfel, auf dem bei einigen Songs speziell für die Konzerte gefilmte Bilder gezeigt wurden. Im Hintergrund prangte das Bandkürzel in großen Buchstaben, die von Glühbirnen umrandet waren, und über den Bühne hing eine Discokugel. Dieses natürlichere Ambiente mit Peepshow-Fair wirkte nett, aber nicht atemberaubend, vermischte sich jedoch gut mit dem organischen Sound, den die Gastmusiker Christian Eigner an den Drums und Peter Gordeno mit Pianosounds vom Keyboard in die zum Teil weit über zehn Jahr alten Songs brachten.
 

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Kurz nach Bekanntgabe der europäischen Tourdaten während der Kölner Pressekonferenz begann auch schon der Vorverkauf und damit ein immenser Ansturm auf die Tickets – zumindest daran hatte sich zunächst nichts verändert. Die meisten Locations waren nach wenigen Tagen restlos ausverkauft und Zusatzkonzerte in Berlin, Köln und London wurden gebucht, um allen Fans die Gelegenheit zu geben, dabei zu sein. Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß fur Gigs in einer Stadt wie beispielsweise Leipzig, welche nur kleinere Hallen bot, jedoch in einen absoluten Ballungsgebiet von Fans liegt, noch kurz vor Showbeginn Karten für weit mehr als 300 Mark auf dem Schwarzmarkt ihre Besitzer wechselten.

Mit etwas zeitlichem Abstand betrachtet festigte sich der erste vage Eindruck, daß Depeche Mode, vor allem Dave Gahan, trotz aller musikalischer Präzision nur mit halber Kraft spielten. Natürlich hätte man vorhersehen können, nicht mehr den leidenschaftlichen Sänger von den vorangegangenen Tourneen zu erleben, da er körperlich noch nicht wieder zu einhundert Prozent fit war und sein Verzicht auf Drogen, die zumindest bei den Konzerten von 1990 und 1993/94 der teuflische Antrieb für seine legendären Selbstinszenierungen waren, anscheinend zusätzlich seinen ehemals starken Bewegungsdrang einschränkte. Da der Erfolg der Shows von Depeche Mode hauptsächlich von der Performance ihres charismatischen Frontmanns abhängig ist und visuelle wie akustische Effekte erst an zweiter Stelle stehen, muß man die Begeisterung, die ihnen anhaltend mit der ersten Konzertminute entgegenschlug, bei dieser Tour hauptsächlich auf das Zusammenspiel dreier anderer Komponenten zurückführen: Erstens auf die Stlist, die bis auf wenige Ausnahmen den persönlichen Lieblingssongs des Großteils des Publikums entsprach und fur viel Bewegung im Publikum sorgte. Zweitens auf den Fakt, daß nur wenige Jahre zuvor kaum ein Anhänger noch ernsthaft mit Konzerten der Band gerechnet hatte und deshalb allein die unmittelbare Anwesenheit der Musiker Wirkung zeigte. Und der dritte Hauptgrund dürfte die in musikalischer und gesanglicher Hinsicht perfekte Show gewesen sein, wobei dieser Umstand in den Augen vieler schon beinahe wieder zu routiniert und deshalb unflexibel wirkte. Selbst wenn die Band an zwei Abenden hintereinander in der selben Stadt gastierte, gab es keine Änderungen an der Setlist und auch die anfangs noch spontan wirkenden kurzen Showeinlagen oder Sprüche Dave Gahans wiederholten sich bei jedem Konzert. Dies war ungewöhnlich, zumal sich die Band ihrer fanatischen Gefolgschaft bewußt ist und es bekanntlich absolut im Rahmen liegt, wenn ein Fan fünf, zehn oder mehr Konzerte einer Tour in allen Teilen der Welt besucht.

Die Stimmungspegel erreichten jedenfalls wieder das Niveau der Vergangenheit. Während Tim Simenon vor jedem Konzert mit seinem DJ-Set die lange Wartezeit verkürzte, feuerten sich die Fans bereits gegenseitig mit Sprechchören oder La-Ola-Wellen an und die Bühnen-Roadies bekamen lauten Beifall, als sie ihre Plätze an den Scheinwerfen über die Bühne mit Hilfe einer Strickleiter aufsuchten. Auch schienen die mit ihrer Band gereiften (oder gealterten) Fans toleranter im Umgang mit der Vorgruppe geworden zu sein. Zumindest blieb das Frauenduo Purity von ganz großen Pfeifkonzerten oder häßlichen Übergriffen verschont, mußte sich lediglich mit dem Bild von Hunderten hochgehaltener Eintrittskarten in den Hallen abfinden. Mittlerweile wieder in Vergessenheit geraten, spielten Purity knackigen Techno-Crossover, der dem Prodigy-Sound nicht unähnlich war.

Nachdem eine halbe Stunde nach ihrem Auftritt erneut die Lichter gedimmt wurden und die ersten Töne von “Painkiller” aus den Boxentürmen drangen, gab es im Parkett wie auf den Rängen kein Halten mehr und in den folgenden 100 Minuten wurde es nur dann beschaulich, wenn Balladen wie “Home”, “Condemnation” oder “Somebody” gespielt wurden. Sein grandioses Finale fand jedes Konzert im den Klassiker “Just Can’t Get Enough”, dessen Melodie nach vielen Konzerten noch minutenlang aus den Zuschauermassen nachhallte. So wiederholte sich das Schauspiel für insgesamt 800.000 Besucher 64 mal in 56 Städten von Osteuropa und Skandinavien über das restliche Europa bis nach Kanada und in die USA, wo in Anaheim am 22. Dezember 1998 das letzte Konzert über die Bühne ging. Der Radiosender K-ROW aus Los Angeles übertrug zuvor das sogenannte “Almost Acoustic” Weihnachts-Special, ein Konzert, das aus der Reihe fiel und einen Großteil an akustisch gehaltenen Versionen (darunter “Enjoy The Silence” und “Sister Of Night”) berücksichtige sowie “Never Let Me Down Again” mit Dave Gahan und Billy Corgan (Ex-Frontmann der Smashing Pumpkins), der für den Song auch Gitarre spielte, im Duett. Diese Tour hatte für alle Beteiligten einen positiven Verlauf. Lediglich zwischen Gahan und dem Rest der Band soll es ab und zu Unstimmigkeiten gegeben habe, obwohl man sich nur zum Essen, zu Besprechungen und natürlich auf der Bühne traf und der Sänger prinzipiell direkt nach den Konzerten mit seinem Freund und Betreuer Geoff von den Anonymen Alkoholikern beziehungsweise Anonymen Drogenabhängigen, der nie von seiner Seite wich, zurück ins Hotel fuhr. Doch auch der Rest der Band und die Crew bekamen Auflagen, die wildern Parties nach den Shows einen Riegen vorschoben, wie Tim Simenon bestätigte: “Absolutes Drogenverbot – das wurde der Crew und der Band unmißverständlich klargemacht. Ich trinke gern Wodka, aber das war in der Garderobe nicht erlaubt. Es gab in der Tat nur Bier und Wein.” Man hatte sich fest vorgenommen, höchstens zweimal pro Woche Alkohol zu trinken und wirkliche Exzesse gab es kaum. So betrat Martin Gore seit langer Zeit auch häufig mal in nüchternem Zustand die Bühne. “Sie konnten ihre Fans jetzt immer genau sehen und sich über die Reaktionen freuen”, beschrieb Daniel Miller das neue Feeling. “Sie hatten auch nicht mehr das Gefühl, in einem Wattebausch durch die Welt gerollt zu werden, und nach den Konzerten waren sie glücklich, so gut zusammengespielt zu haben.” Zwei weitere Veröffentlichungen gingen in die Jahresbilanz ein: Die Veröffentlichung der ersten Hit-Kopplung “The Singles 81>85” mit neuem Artwork und einigen Bonustiteln sowie das VHS-Video “The Videos 81>85” mit allen 21 Clips aus dieser Zeit, einem neuen Interview und einem Kurzfilm am Ende. Danach wird es, von erneuten Gerüchten über eine Auflösung der Band begleitet, für lange Zeit wieder still um Depeche Mode.
 

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Kapitel 12
Excited Again


In der tat war es nach der erfolgreich absolvierten Tournee zum zweiten Best Of-Album eine Zeitlang nicht sehr gut um die Zukunft von Depeche Mode bestellt. Es wehte bereits ein Hauch von Abscheid in den letzten Veröffentlichungen, die die größten Momente einer fast zwanzigjährigen Karriere wie aus dem Bilderbuck des Rock’n’Roll festhielten, und die Konzerte verstärkten diese Eindruck. Schon länger war es kein Geheimnis mehr, daß die Band nicht mehr maßgeblich von der guten Freundschaft aus den Anfangstagen zusammengehalten wurde, sondern zultezt unregelmäßig einem gemeinsamen profitablen Job nachging, der häufig nicht mehr vom Enthusiasmus der frühen und mittleren Bandjahre geprägt wurde. Gemeinsamen musikalischen Wirkten fühlte man sich auf der einen Seite immer auch verpflichtet und die letzten Produktionen mögen ein wichtiger Bestandteil Dave Gahans Therapie gewesen sein, aber andererseits war am Ende des Jahres 1998 erstmals eine Situation gegeben, in der die Band in Würde hätte aufgelöst werden können. Die Aussicht auf einen weiteren Ausbau des Erfolges gab es nicht mehr. Depeche Mode hatten bis dahin alles erreicht, was im Musikbusineß möglich ist, wahrscheinlicher schien da schon eine Stagnation, wenn nicht sogar Rezession. Sie sind die “Cashcow für Mute” geworden, wie Chris Carr es damals ausdrückte, und das finanzielle Polster, welches für einen totalen Rückzug aus dem Geschäft bei gleichzeitiger Sicherung eines anhaltenden Lebens mit allen materiellen Vorzügen ausreichend gewesen wäre, hatte jedes Bandmitglied schon mindestens acht Jahr zuvor im Rücken gehabt und bis 1998 sogar noch vervielfacht. Auch wenn darüber nie öffentlich gesprochen wurde, der Verdacht liegt nahe, daß Martin Gore dazu entschlossen war, die Band für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen. Nur der für Depeche Mode typischen Inkonsequenz bei Entscheidungen mit weitreichenden Folgen ist es letztendlich zu verdanken, daß er diese Gedanken, die er schon seit längerem mit sich getragen haben wird, sich ni ein konkrete Gestalt hatte entwickeln lassen.

Gore, der mit seiner Frau Suzanne und seinen Töchtern Viva-Lee und Ava-Lee, geboren 1991 beziehungsweise 1995, mittlerweile in Kalifornien lebte, machte auch mehr als ein Jahr nach der Singles-Tour noch keine Anstalten, die Band mit neuen Songs im Gepäck zur Studioarbeit einzuladen. Im Frühjahr 2000 hätte er keinen einzigen verwendbaren Titel vorweisen können. Dave Gahan, ein Jahr zuvor mit seiner langjährigen Freundin Jennifer in den Bund der Ehe (seine bislang dritte Hochzeit). Getreten und seit September 1999 stolzer Vater seines zweiten Kindes Stella Rose, erinnerte sich: “Wir warteten darauf, daß Martin mit neuen Songs kommt, warteten und warteten. Ich war mir schon nicht mehr sicher, daß es diese jemals geben würde. Also trafen wir uns mit Daniel Miller und Jonathan Adler (einer der neuen Studioassistenten – Anm. d. Verf.) in London und ermutigten Martin, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten – einem Musiker oder Programmierer, der ihm helfen sollte, seine Ideen ans Licht zu bringen. Wir wußten, das er welche hatte. Glücklicherweise folgte er unserem Rat und tat sich mit seinem Freund, dem Programmierer Paul Freegard, zusammen. Gareth Jones holten wir ebenfalls dazu. Der Druck von den wartenden Leuten half Martin, seinen Ideen am Piano Gestalt zu geben. So entstanden ziemlich schnell die Demo-Tapes.”

In Dave Gahan wuchs während der tatenlosen Zeit des Songwriters der schon länger in ihm schlummernde Wunsch, eigene Songs zu ungeschriebene Bandgesetz, welches Gore als alleinigen Schreiber ernannte, an deren Umsetzung. “Ich tat mit meinem Freund Knox Chandler (Cellist und Gitarrist bei Siouxsie And The Banshees – Anm. d. Verf.) zusammen und machte es wie Martin, als icht sagte: ‘Ich habe einige Ideen und brauche jemanden, der sie aus mir herausholt.’”, meinte der Sänger mit den verborgenen Talenten. “Auch als ich später viel in England war, um die Lieder für Depeche Mode einzusingen, machte ich mit dem Songwriting weiter.” Bei Erscheinen dieser Biographie befindet sich Dave Gahan in den letzten Vorbereitungen für die Veröffentlichung seines ersten Soloalbums, welches er mit einigen Auftritten begleiten wird.

Daß es schließlich doch recht schnell zur Produktion des neuen Depeche Mode Albums kam, fand selbst die Band noch nach der Veröffentlichung überraschend. Gahan erklärte: “Es gibt ein starkes Band, das uns drei verbindet, wenn wir im Studio oder auf der Bühne sind. Bei uns steht nicht fas Individuum im Mittelpunkt. Es gibt wohl etwas Höheres, Großeres, das uns immer wieder zusammenführt. Egal mit welchem Produzenten wir arbeiten, das Zusammenspiel von Martins Songs und meine Stimme gibt zen Ausschlag. Als wir dann erst einmal an ein paar Songs bearbeitet hatten, waren wir alle von der Idee eines neuen Albums begeistert und wir merkten, daß es uns noch immer Spaß macht und daß noch immer etwas da war, was wir geben konnten. Das war die eigentliche Überraschung.” Es war erliechternd, zu sehen und zu hören, daß der Sänger wieder ein angemessenes Selbstwertgefühl hatte. Während seiner therapeutischen Behandlungen wurde ihm anfangs immer wieder klargemacht, daß er ein Niemand sei und sich durch nichts von durchschnittlichen Menschen unterscheide. So sollte es ihm leichter fallen, die Finger von den Drogen zu lassen. Geschafft hat er dies bis heute, doch dieser Erfolg hatte unter anderem zur Folge, daß es genauso lange Glauben an seine eigenen Stärken zurückgewonnen hatte.

Die trainierte Fähigkeit zu positiver Selbstreflexion und die Energie, die Gahan aus seiner bewußt gesunden Lebensweise zog, reflektierne sich unüberhörbar in der Art seines Gesangs. Mehrdimensional, druckvoll, experimentierfreudig und wie ein gut beherrschtes Instrument wirkt Gahans Stimme un den neuen Songs. Ein Effekt, der nur aus einem neuen Ansatz resultieren konnte, den man bei der Produktion verfolgte: “Anstatt mit Martin hinter dem Mischpult zu sitzen, habe ich mich zunächst im Kontrollraum eingenistet und Gesangsspuren aufgenommen. Ich wollte selbst beurteilen, wie ich klinge und wie ich meine Stimme variieren kann. Ich habe mir dann von allen Versionen jeweils die in meinen Ohren besten herausgepickt, welche dann nur noch in die fertigen Tracks eingefügt werden mußten. Das hat uns jede Menge Zeit und Nerven gespart.” Nie zuvor deckte Gahan mit seiner Stimme das Spektrum von verletzlich bis wütend so beeindruckend ab wie hier. Er erläutert: “Manchmal benutze ich sie wie in einer Art Schauspiel, zum Beispiel wenn ich den dunklen Gothic-Typen bei ‘Dead Of Night’ mime, dann aber wieder auch in ganz vertrauter Form. Bei ‘When The Body Speaks’ und ‘Goodnight Lovers’ mit sehr soften Vocals fühlte ich zum ersten Mal, daß ich etwas richtig machen würde, daß ich viel mehr mit meiner Stimme machen konnte, als ich es selbst für möglich gehalten habe.” Gahan wollte nicht mehr nur singen, wie man es von ihm erwartete, Es schwingt heute etwas Sensibles in seiner Stimme und er hatte keine Hemmungen mehr davor, auch diese Seite von sich zu zeigen.

Die Sessions dauerten nur wenige Monate. Man entschied, das neue Material von Mark Bell, bekannt als eine Hälfte des legendären Techno-Duos LFO aus Sheffield, produzieren zu lassen. Musikalisches Neuland sollte ausgelotet werden und für dieses Vorhaben bot sich der Mann, der schon Björks Stimmorgan zu einem eigenständigen Instrument machte, bestens an, wie Daniel Miller fand. Nach der Vorproduktion in London zog die Band mit Bell und Gareth Jones in die besten Studios von Santa Barbara und New York, Ein Vielzahl an Technikern und Gastmusiken, unter ihnen wieder Christian Eigner, Live-Drummer der letzten Tour, und Knox Chandler, der die Streicher auf “When The Body Speaks” spielte. Mit dem eingeschlagenen musikalischen Stil knüpften man zwar an die minimalen und stillen Passagen des vorangegangenen Albums “Ultra” an, konzentrierte sich aber noch stärker auf dezent arrangierte Atmosphären mit in den Vordergrund gemischten Melodien und Gesangsparts. Durch Mark Bell haben Depeche Mode gelernt, daß sie ihr Bild von sich selbst nicht mehr erzwingen müssen. Erneut wurden elektronische und organische Komponenten miteinander verschmolzen, aber in anderer Form als früher, fa sich die Klänge beider Welten noch recht deutlich trennen ließen. Gahan: “Ich mag es, wenn sich ein Akkordeon oder ein Cello nicht durch ein ganzes Stück durchzeit, sondern gespielt, manipuliert und mit dem Sound experimentiert wird, während der Ansatz noch immer deutlich menschlichen Ursprungs est.”
 

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Man kündigte an, daß sich das neue Album in seiner stilistischen Mannigfaltigkeit am ehesten mit “Black Celebration” aus dem Jahre 1986 vergleichen ließe. Diese erste Einschätzung ist nachvollziehbar, wenngleich das Produkt eher warm denn steril, ausgeglichen denn spektakulär und lyrisch lebenserfahren denn bewußt provokativ erscheint. Nach breiten Überlegungen zu einem treffenden Titel für die 13 neuen Songs entschied man sich erneut für ein gewichtiges Wort: “Exciter”, übersetzt etwa “Erreger” oder “Aufreger”. Wie einst “Violator” oder “Ultra” transportierte dieses Wort in erster Hinsicht Stärke und Erhabenheit, womit schon lange im Vorfeld die gewünschte Aufmerksamkeit erzielt werden konnte. Daß Depeche Mode erneut mit der Bedeutung, die sie in einem Albumtitel sahen, weit entfernt von den Interpretationen der breiten Masse lagen, wurde teilweise deutlich, nachdemn sie auf ihrer offiziellen Homepage nach und nach kurze Auszüge aus den Songs zum Download anbieten ließen. Als das komplette Album zwei Monate vor dem Veröffentlichungstermin bei der Internet-Tauschbörse Napster auftauchte, wurden die falschen Erwartungen zur Gewißheit. Gerüchten zufolge hatte ein Mitarbeiter der Plattenfirma die Vorabkopie an Dritte weitergegeben, die diese dann in das MP3-Format mit überschaubaren Dateigrößen konvertierten und online zur Verfügung stellten. Im eng geknüpften Kommunikationsnetz der Fans machte diese Botschaft binnen Stunden die Runde und wenige Tage später konnte jeder, der sich brennend für die Songs interessierte, mit geringem Aufwande an das Album gelangen. Ohne die Zustimmung von Band und Plattenfirma wurde zudem etwa gleichzeitig auch das Cover auf der bandeigenen Homepage präsentiert und mußte kurz darauf wieder entfernt werden. Doch da war es schon zu spät: “Exciter” stand bereits hundertfach in den CD-Regalen der Fans und vermehrte sich exponentiell. Foren analysierten das für viele unvollkommen wirkende Songmaterial und die ganz große Spannung war verpufft, ohne daß Künstler und Label auch nur einen Penny daran verdient hatten.

Für das Gros der Stars und Sternchen hätte dieser Umstand katastrophale Auswirkungen mit einem finanziellen Desaster unvorhersehbaren Ausmaßes nach sich ziehen können. Anders bei Depeche Mode. Sie konnten der vermeintlichen Katastrophe gelassen entgegensehen und taten das auch, wie ihre Reaktionen später zeigten. Zwanzig Jahre Erfahrung mit dem ganz speziellen Konsumverhalten ihrer Fans ließ mittlerweile keinen anderen Schluß zu, als daß der ideelle Wert ihrer Platten, und zwar der Originale, jede jostengünstigere Alternative weit übertreffen mußte. Mehr noch: Die Hysterie erreichte 2001 eine neue Qualität.

Am 13. März lud die Band zu einer Pressekonferenz nach Hamburg, um Fragen zu “Exciter” und Napster zu beantworten sowie mehr als zwei Monate vor Albumveröffentlichung Termine für eine im Spätsommer gebuchte Europa-Tour vorzulegen. Wie es hieß, sollte der Ticketverkauf in ein bis zwei Wochen beginnen, doch mehrere Vorverkaufsstellen begannen direkt im Anschluß an die Bekanntgabe der Dates mit dem Druck der Tickets und boten diese auch gleich in ihren Shops an. Wieder dauerte es nur wenige Augenblicke bis der organisierte, harte Kern in Kenntnis über den angeblich unwissentlich verfrüht gestarteten erkauf geraten war, was zur Folge hatte, daß das Konzert in der Berliner Waldbühne nach nur sechs Stunden ausverkauft war – 22.000 Tickets waren weg, bevor auch nur ein großes Medium die Gelegenheit hatte, von dessen Stattfinden berichten zu können. Weitere Konzerte, für die es schon Karten gab, standen wenige Zeit später ebenfalls kurz vor dem Ausverkauf und Panik machte sich breit. Telefone und Tastaturen mußten in Reichweite bleiben und Nachtwachen eingelegt werden, da jeden Augenblick auch der Verkauf für weitere Locations beginnen konnte. Für einige Hallen hatten sich die lokalen Präsentatoren im Vorfeld ein bestimmtes Kontingent an Tickets gesichert, wie zum Beispiel der Kölner Stadt-Anzeiger und Radio Eins Live für die Kölnarena, was zu großen Ärgernissen führte, da man auf dem konventionellen Wege oft von vornherein nur einen Platz der hinteren Ränge bekommen konnte.

Als “Exciter” am 15. Mai 2001 in den Handel kam, war die Europa-Tour mit Ausnahme der riesigen Open Airs in Leipzig oder Hamburg bis auf wenige Restkarten ausverkauft und das, obwohl Zusatzkonzerte in Berlin, München und Köln gebucht wurden und dies die Tour zu einen Album war, welches trotz Napster noch immer nur einem kleinen Teil der Ticketkäufer bekannt gewesen sein wird. Man stellte sich die Frage, ob einer Band überhaupt ein größerer Vertrauensbeweis erbracht werden könnte.

Am 23. April erschien zunächst mit “Dream On” die erste neue Single seit zweieinhalb Jahren. In Deutschland stieg sie direkt auf Platz 1 und in England auf 6 ein. Dies ist nach “People Are People” (1984) Depeche Modes bislang zweiter Nummer-Eins-Hit in Deutschland. Es folgte ein Auftritt bei der Chart-Show “Top Of The Pops” in England. Bei dieser Gelegenheit wurde in weiser Voraussicht auch gleich die geplante zweite Auskopplung “I Feel Loved” gespielt und aufgezeichnet, natürlich aber erst zum gegebenen Zeitpunkt ausgestrahlt. Anders als seit 1989 gehandhabt, wurde dieses Mal nicht der vermeintlich härteste Song eines Albums als erste Single ausgekoppelt, wie es “Personal Jesus”, “I Feel You” und “Barrel Of A Gun” einst waren. “Dream On” ist ein ruhiger, bluesiger Titel mit einprägsamen Refrain und in Andy Fletchers Augen so etwas wie die musikalische Schnittmenge von “Exciter”. Der zweite Singletrack, das Instrumental “Easy Tiger”, auf dem kommenden Album in einer kürzeren Version enthalten, fiel in seiner ausgeprägten Dezenz zunächst kaum ins Gewicht. Erst als mit diesem Song später die Konzert eingeleitet wurden, richtete sich die volle Aufmerksamkeit auf seine leichten, warmen Klänge. Heute ruft “Easy Tiger” bei vielen Besuchern der letzten Tour Erinnerung an die in dunklen Rottönen strahlende Bühne und die knisternde Spannung in den Hallen hervor. Weder hier, noch bei einem der kommended drei Videoclips führte Anton Corbijn Regie. Nach der TV-Premiere des im Stile eines Road-Movie aufgebauten “Dream On” am 30. März hörte man jedoch zunachst nur vereinzelt Stimmen, die diesen Umstand zu bedauern schienen.
 

demoderus

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Ab Mai 2001 gab es dann endlich den lang ersehnten Longplayer auf ganz legalem Wege zu kaufen. Depeche Mode hatten selbst, wie erwähnt, im Vorfeld mit kurzen Soundschnipseln auf ihrer Webseite dafür gesorgt, daß der Überraschungseffekt erstmalig in Grenzen blieb. Es bliebt schwer einzuschätzen, ob dieser intendierte Vorgeschmack oder das nicht einkalkulierte schwarze Napster-Vertriebsnetz Auswirkungen auf die Verkaufszahlen hatten. Angesichts der Tatsache, daß das Album in vielen Staaten allein durch die Zahl an Vorbestellungen Gold-Status erlangt hatte läßt sich in jedem Fall festhalten, daß diese Faktoren der Band keinen offensichtlichen Schaden zugefügt hatten. Unter anderem in Deutschland, Frankreich und Belgien sowie in vielen skandinavischen und osteuropäischen Ländern erreichte auch “Exciter” wieder die Spitze der Charts.

Die Fachpresse erkannte bei aller Zurückhaltung im Soundbild neue Qualitäten, hob weitgehend einstimmig die Eigenständigkeit und den Facettenreichtum des Albums hervor und schrieb anerkennend über Dave Gahans auffällig gute Gesangsleistung. Mit Depeche Mode enger verbundene Organe, wie etwa Fanzine, Mailinglisten oder Internetforen, werteten “Exciter” nicht ab, zeigten sich jedoch in mehreren Fällen enttäuscht über die nicht vorhandene Komplexität. Auch fehlte es den Stücken an Tanzbarkeit. Nie zuvor in der Bandgeschichte war zu beobachten, wie sich die Ablehnung eines Albums in Laufe der Zeit noch intensivierte. Während die zwei vorangegangenen Alben “Ultra” und “SOFAD” nach einer kurzen Phase der Gewöhnung oder auch Ablehnung ihren Platz in den Herzen der Anhänger sichern konnten, wird “Exciter” heute mehrheitlich als langweilig oder belanglos angesehen, wie Umfragen und Diskussionen in einschlägigen Medien zeigen. Allein Dave Gahan sich der Tatsache bewußt, daß die Masse an Balladen ungewöhnlich ist, wenngleich Anfang 2001 noch nicht die Reaktionen des Publikums abzusehen waren: “Ehrlich gesagt habe ich das Album seit Abschluß der Aufnahmen nicht mehr gehört. Ganz einfach weil ich das Gefühl hatte, daß ich etwas Distanz brauche, um es richtig einschätzen zu können. Aber vor kurzem hatten wir eine Fotosession in Los Angeles und der Fotograf bat uns, ihm die CD vorzuspielen. Als sie dann lief ertappte ich mich dabei, daß sie mir doch etwas zu ruhig vorkam. Aber das ist nun mal, was wir wollten und wie wir uns fühlten.”

Depeche Mode hatten immer eine musikalische Weiterentwicklung angestrebt und verwirklichen können, das bewiesen sie mit jedem Album aufs neue. Auch wenn die Songs prinzipiell ihre unverwechselbare Handschrift trugen, klang doch jedes Album in seiner Gesamtheit anders als der Vorgänger und zuletzt überzeugten sie schließlich immer mit Konzepten, die niemand in dieser Form hätte vorhersagen können. “Exciter” war nun die erste totale Überraschung, da es meilenweit von allem entfernt ist, was man bisher für ihre Maxime oder einfach “Depeche Mode” gehalten hat. Künstlerische Freiheiten, die sich die Band längst leisten konnte, werden hier erstmalig vollständig ausgeschöpft und so fanden Einflüsse aus Avantgarde, Chanson oder Ambient ebenso ihren Niederschlag wie schon immer oder zuletzt verstärkt eingebundene Elemente aus Pop, Rock und Blues.

Greifbarer, beinahe intim erscheinen Depeche Mode im neuen Jahrtausend, und wenn man in ihren Songs heute düstere Romantik suchen wollte, muß man erst durch das Licht der Musik in Martin Gores Texte blicken. Es scheint, als würde erst hier das finstere Kapitel der mittleren Neunziger wirklich aufgearbeitet: Räume ohne Licht und Menschlichkeit, “Zombie Rooms” im Text von “Dead Of Night”, die der Sänger jahrelang mit seelenlosen, unbekannten Leuten teilte, wo entartete Parties stattfinden und sich in Dekadenz gesuhlt wurde. Gahan singt bei “The Sweetest Condition” und “Dream On” von der süßen Versuchung, die er erst gesucht hatte, aber von der er später nur noch heimgesucht wurde. Diese Beziehung wurde von Anfang an nicht von Liebe, sondern von Verlangen dominiert. “When The Body Speaks” erzählt von der wiedergewonnenen Einigkeit von Körper und Geist, der Fähigkeit, zu fühlen und gefühlt zu werden. Die Texte in ihrer Gesamtheit handeln von Lust, Verlust und letzten Endes dann doch wieder ausschließlich von der Liebe in allen Facetten und Pervertierungen. Auch wenn es zunächst so scheint, als schriebe Martin Gore in erster Linie aus der Sicht des Sängers, ist dies auch auf “Exciter” nicht der Fall. Gahan erklärt: “Die meisten Erfahrungen haben wir zusammen gemacht. Schließlich haben wir in den vergangenen 20 Jahren sehr viel Zeit miteinander verbracht, das bleibt nicht ohne Folgen.” Warum Gore nicht schon eher solch deutliche Worte suchte, begründet Gahan so: “Martin wußte, daß es nur wenig Sinn machen würde, mich zum damaligen Zeitpunkt damit zu konfrontieren. Es war alles noch zu frisch. Er hat gewartet, bis ich mich mit den Texten identifizierten und nachvollziehen kann, wovon sie handeln und welche Gefühle darin stecken. Eben wei ich sie selbst erlebt habe.”
 

demoderus

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Nach einem Clubkonzert in Los Angeles und zwei Warm-Ups in Quebec und Ottawa startete die “Exciter”-Tour am 16. Juni im kanadischen Montreal und führte zuerst mit 41 Konzerten durch Kanada und die Vereinigten Staaten. Erneut betraute man Anton Corbijn mit dem Entwurf der Realisierung das Bühnenbildes sowie Christian Eigner (Drums), Peter Gordeno (Keyboards), Jordan Bailey (Vocals) und Janet Cooke (Vocals) mit der Rolle als Livemusiker. Corbijn hielt an den Vorzügen eines kompakten Sets fest und präsentierte eine auf den ersten Blick regelrecht nackt aussehende Bühne. Im Hinergrund prangte eine riesige Leinwand, die lediglich bei fünf Songs Einsatz fand, drunter unter anderem mit einem fesselnden neuen Clip zu “It’s No Good”. Wie ursprünglich geplant, sollte sich diese Leinwand nach vorn klappen lassen und eine Art Dach ergeben. Von dieser Moglichkeit wurde jedoch nur ein einziges Mal Gebrauch gemacht, “da es technische Probleme gab und irgendwie nicht besonders gut aussah”, wie Fletcher nach der Tour erklärte. Weitere optische Effekte gingen von statischen und bewiglichen Lichtelementen, die auf der ganzen Bühne verteilt waren, aus. So senkten sich beispielsweise während “Freelove” ein Lichtervorhang oder zu “Personal Jesus” pulsierende Kreuze von der Bühnendecke. Einen agileren Dave Gahan hatte man lange nicht erlegen können. Die Show lebte von seinen großartigen wie eigenartigen Posen und Tanzeinlagen. Die Interaktion mit Musikern und Publikum wurde groß geschrieben, wenn auch der ruhige Mittelteil dieser Konzerte für den Geschmack vieler Besucher etwas zu lang geraten war. Bei den Hallenkonzerten fiel dies nicht primär ins Gewicht, aber den riesigen Open Schwerpunkt auf tanzbaren Titeln sicher gut getan.

Während Europa bereits den Terminen in bequemer Eintfernung entgebenfieberte, kam am. 23 Juli mit “I Feel Loved” zunächst eine weitere Single heraus. Das wohl interessanteste an ihr ist der neue Song “Dirt”, eine spontan während der “Exciter”-Sessions entstandene Coverversion des Stooges-Klassikers, die Gahans Stimme in nicht gekannter Form präsentiert.

Als Special-Guest für den europäischen Tour-Abschnitt gewann man mit fad Gadget ein Ikone des avantgardistischen Minimal-Electro der frühen Achtzigen: Hatten Depeche Mode der Verpflichtung in seinem Vorprogramm 1980 ihren späteren Plattenvertrag zu verdanken, konnten Fad Gadget alias Frank Tovey 17 Jahre nach der Veröffentlichung seines letzten Studioalbums “Gag” ein fulminantes Bühnen-Comeback feiern. Sein unerwarteter Tod kurz darauf bleibt eine Tragödie.

Ende August ging in Tallin, Estland, das erste Konzert auf europäischen Boden über die Bühne. Am 5. und 6. September erlebte man dann in der Berliner Waldbühne die ersten der ingesamt 13 Konzerte in Deutschland, be denen allein weit mehr als 300.000 Besucher gezählt wurden. Die Tour führte anschließend im Zickzack-Kurs durch den Kontinent, schließt ein erstes Konzerte in der Türkei ein und endet mit einem Zusatzkonzert am 5. November in der Mannheimer Maimarkthalle. Der bis heute letzte Auftritt von Depeche Mode fand drei Tage später bei den MTV European Music Awards in Frankfurt statt, woe sie zwar keinen Preis gewinnen aber mit “Never Let Me Down Again” der versammelten Konkurrenz die Show stehlen konnten. 81 Konzerte mit rund 1,5 Millionen Besuchern gehen in die Bilanz der “Exciter”-Tour ein – die profitabelste der Bandgeschichte. Noch zwei weitere Singles wurden aus dem jüngsten Album ausgekoppelt: “Freelove” erschien am 5. November 2001 und “Goodnight Lovers” am 11. Februar 2002. “Freelove” überzeugte in einer neuen von ihrem ehemaligen Produzenten Flood angefertigen Version und stieg in Deutschland auf Rang 8 ein. Warum dann aber ausgerechnet der unauffälligste Albumtrack als letzte Single ausgewählt wurde, ist nur schwer nachvollziehbar. Zur Freude der Sammler gab es von “Goodnight Lovers” wenigstens eine limitierte 12”-Maxi in durchsichtigem roten Vinyl und zwei hochinteressante Versionen von “When The Body Speaks” und “Dead Of Night” waren enthalten. Kritik zu einem insgesamt weniger glücklich wirkenden Händchen bei der Auswahl der letzten Singles scheint zurückblickend nicht unangebracht. “Dream On” brach bereits mit einer Tradition, wenngleich sie sehr erfolgreich war, “I Feel Loved” kann durchaus als einer der schwächsten und “Goodnight Lovers” ganz klar als der Single-untauglichste Titel des Albums bezeichnet werden. Allein “Freelove” erwies sich von vornherein als designierte Auskopplung. Aber da “Exciter” sich in vielerlei Hinsicht von anderen Alben Depeche Modes unterscheidet, wäre eine traditionelle Folge, etwa in der Form “Dead Of Night” – “Shine” – “Freelove” – “Dream On”, beinahe wieder zu vorhersehbar gewesen.

Ungelich bedeutender ist schließlich noch die Erwähnung zweier im Jahr 2002 veröffentlichter Doppel-DVDs. “One Night In Paris” wurde während der Konzerte am 9. und 10. Oktober 2001 im Pariser Bercy aufgezeichnet und hält die komplette Show weitgehend authentisch in perfekter Bild- und Tonqualität fest, neue Interviews und weitere Features finden sich auf der zweiten DVD. “One Night In Paris” war die erste Musik-DVD, die in die deutschen Album-Charts einstieg nachdem sie bereits vor der Veröffentlichung den Gold-Status erlangt hatte. Drei Monate später wurde die DVD nach über 50.000 verkauften Einheiten in Deutschland auch mit Platin ausgezeichnet und gewann bei der größten internationalen Musikmesse Popkomm in Köln den Award in der Kategorie “Bester Konzertmitschnitt / Beste Künstlerdokumentation”. Gegen Jahresende erschien die DVD- Neuflage von “The Videos 86>98” mit allen Clips dieses Zeitraumes und gesuchtem Bonusmaterial auf einer zweiten Scheibe. Einen Monat zuvor, am 21. Oktober, zeigte sich die Band nach einjähriger Abstinenz erstmalig wieder öffentlich bei der Verleihung des Q-Awards 2002 in London, wo sie ihren gewonnenen “Innovation Award” in Empfang nehmen durften.

Wenige Wochen vor dem Erscheinen dieser Chronik, bestätigten sich die schon länger kursierenden Gerüchte über geplante Soloalben von Martin Gore und Dave Gahan. “Counterfeit²” von Martin Gore soll ab dem 28. April in den Läden stehen unf elf Eigeninterpretationen von Songs, zu denen er in einer besonderen Beziehung steht, enthalten. Darunter werden sich Titel von Künstlern wie Nick Cave, Brian Eno, David Bowie / Iggy Pop, sowie das auf deutsch gesungene “Das Lied Vom Einsamen Mädchen”, welches von R. Gilbert und W. R. Heyman komponiert und beispielsweise von Marlene Dietrich interpretiert wurde, befinden.

Ein Veröffentlichungstermin für Dave Gahans Album ist für Anfang Juni anberaumt und wird ersten Informationen zufolge gleich mehrere musikalische Überraschungen bereithalten.

Andy Fletcher, der gerade sin eigenes Label, ‘Toast Hawaii’ gegründet und darauf eine Maxi-CD des ersten Signings namens Client veröffentlichte, erklärte in einem Interview Anfang dieses Jahres, daß gute Chance für neues Material von Depeche Mode in absehbarer Zeit bestünden. Bereits im April oder Mai wird sich die Band wieder im Studio treffen und außerdem noch in diesem Jahr der Konzertfilm “101” mit weiterem Filmmaterial auf DVD wiederveröffentlichen.

Auch nach mehr als 22 anhaltend erfolgreichen Jahren haben Depeche Mode offensichtlich noch immer künstlerische Ambitionen. Es ist ein Geschenk, daß man auch zukünftig mit ihnen rechnen kann.
 
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